Sie wendet sich an die Klasse, eine der Studentinnen fällt ihr auf. Sie sieht älter aus als die anderen. Sie ist nicht modisch gekleidet, sie erinnert sie mit ihrem dunklen Haar, ihrem Hautteint und den braunen Augen an Menschen, die sie in Italien oder Portugal gesehen hat. Es ist ihr erster Tag als Lehrerin an diesem Gymnasium, sie kennt die Klasse noch nicht, eine Klassenliste liegt vor ihr, sie wird sich in den kommenden Tagen und Wochen die Namen merken müssen, was ihr nicht leicht fallen wird. Das weiss sie. Am einfachsten ist es, sich an auffälligen Äusserlichkeiten zu halten, sich so anhand von Merkmalen die Namen zu merken. Mal war es in einer anderen Klasse eine Rothaarige, mit der sie begonnen hatte, sich die Namen zu merken, ein anderes Mal eine besonders korpulente oder magere Studentin. Diesmal sollte es also diese dunkelhaarige sein, ein mediterraner Typ, wie sie fand, eine Gymnasiastin, die wahrscheinlich aus dem Ausland stammte, vielleicht erst spät Deutsch gelernt haben konnte. Einundzwanzig junge Frauen sassen ihr gegenüber. Alle Augen waren auf sie gerichtet, als sie mit dem Vorlesen der Namenliste begann. Bei jedem Namen streckte eine der Studentinnen die Hand auf und sagte „hier“ oder „ja“. Sie überflog beim Vorlesen die Liste und fand keinen, der portugiesisch oder italienisch klang. Als sie Landauer, rief, Annette Landauer, da streckte zu ihrer Verwunderung die Studentin auf, deren Namen sie sich heute merken wollte. In der Pause nach der ersten Doppelstunde kam sie ihr im Gang entgegen und fragte sie, von wo kommen Sie. Von hier, lautete die Antwort. Sie sind älter als die anderen, nicht wahr? Ja, das stimmt. Und sie kommen gar nicht von anderswoher? Ich habe eine längere Zeit nicht hier gelebt, es stimmt, sagte die dunkelhaarige Studentin, ohne auf die Frage näher einzugehen. Sie kommt von hier bestätigte auch die Rektorin. In den Akten des Schulsekretariats fanden sich keine Angaben, die ihr hätten weiterhelfen können. Die Studentin, die drei Jahre älter war als die anderen dieses Jahrgangs, blieb ein Rätsel. Es gab kein spezielles modisches Detail, das zu ihr gehörte, sie blieb ernst, wirkte manchmal vielleicht etwas traurig. Sie hatte keinen fremdländischen Akzent, sie fiel durch nichts anderes auf als durch ihren Hautteint, ihre braunen Augen, ihr Alter und ihre ernste Miene. Bitte fragen Sie nicht weiter nach, sagte Anette Landauer eines Tages der Lehrerin und reagierte so auf Fragen, die die Lehrerin anderen Studentinnen gestellt hatte. Lassen Sie sie, sagte auch die Rektorin etwas später. So war sie auf Vermutungen angewiesen, dachte an eine Adoption, an eine Zeit in einem Heim, auch an einen Elternteil im Mittelmeerraum an einen längeren Aufenthalt im Süden, an eine Krankheit, an einen Sanatoriumsaufenthalt. Annette Landauer blieb ein Geheimnis. Und die Lehrerin konnte es sich selbst nicht erklären, weshalb gerade diese Schülerin sie auch dann noch so sehr beschäftigte, als sie die Namen aller Studentinnen kannte.
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Mit den Nationalitäten und Herkünften ist das so eine Sache im Zeitalter der Migration: In der Neuen Zürcher Zeitung vom 3. April 2012 handelt ein langer Text auf der Seite Medien davon, wie Computertechnik den Journalismus verändert. Shazna Nessa wird im Artikel vorgestellt als eine „gebürtige Londonerin“, um eine Spalte weiter als „die aus Bangladesh stammende Journalistin“ bezeichnet zu werden. Wir haben offenbar alle mehrere Identitäten. Klar. Und das trifft wohl bei der mediterran aussehenden Annette Landauer auch zu.
Diese Geschichten gefallen mir. Der Name Landauer spricht mich irgendwie an. Einmal erinnert er mich an ein mit Pferden bespanntes herrschaftliches Gefährt, vielleicht aus Österreich?? Dann lässt er mich an einen jüdischen Schriftsteller denken. Hieß so nicht der Autor etwa meiner Alterstufe, der im Rückblick von der europäischen Geschichte des letzten Jahrhunderts erzählt? Jetzt lese ich mal erst weiter. Gruss – kh