Radtour

Alle zwei Wochen sind sie mit der Bahn an den Bodensee unterwegs. Sie sind pensioniert, sie haben Zeit, sie besitzen ein Generalbonnement der Schweizer Bahn. Sie müssen nicht frühmorgens schon in den vollen Zügen mit den Berufspendlern unterwegs sein. Wenn die anderen ihre Arbeit aufgenommen haben, machen sie sich auf den Weg zum Bahnhof und profitieren von den leeren Zügen. Konstanz ist ohne Umsteigen und in weniger als anderthalb Stunden Bahnfahrt von Zürich aus erreichbar. Das Fleisch ist billiger in Deutschland. Sie loben das dunkle Brot der Brotmanufaktur Schneckeburger. Sie schwärmen von der Vielfalt der deutschen Brote. Und sie können mittlerweile zu jedem Brotnamen genauso etwas erzählen wie Weinkenner über Weine. Ob Berliner Landbrot, ob Oldenburger, Frankenlaib, Mangbrot, Münsterländer Bauernstuten, Rheinisches Schwarzbrot, Paderborner Landbrot, Heidebrot oder Kommissbrot. Sie haben sie alle ausprobiert. Der Besuch beim Coiffeur ist billiger als daheim. Das Gemüse ist genauso gut im nahen Ausland. Und alles, was sich in der Drogerie einkaufen lässt, ist dank des Eurokurses und dank der tieferen Preise überhaupt preiswerter dort. Ihre kleine Enkeltochter hat noch nie Papierwindeln aus der Schweiz getragen, bei jedem Einkaufsausflug wird daher der dm, der Drogeriemarkt, aufgesucht, weil hier die Windeln halb so teuer sind als in der Schweiz. Sie kennen die Preise ganz genau. Einmal im Monat wartet er im Café auf sie, weil sie beim Friseur ist. Sie ist nicht die einzige Schweizerin, die hier die Haare waschen und schneiden lässt. Und wie angenehm, erzählt sie in der Bahn, man kann sich hier mit der Coiffeuse auf Schweizerdeutsch unterhalten. An ihren etwas biederen Einkaufswäglchen, die sie hinter sich herziehen, sind die älteren Schweizer in Konstanz zu erkennen. Sogar die Bücher aus der Schweiz sind hier billiger als Zuhause. Weshalb? Das werden sie nie verstehen. Hauptsache, es gibt diese Bücher. Freitag alle zwei Wochen ist ihr Konstanzer Tag. Und sie sind nicht die einzigen, die mit den vollen Einkaufswagen über Kreuzlingen und Weinfelden wieder nach Zürich fahren. Es kostet uns nichts, wir haben Zeit und wir haben ein GA, erklären sie. Und weil sie nicht die einzigen mit diesem Freitagsritual sind, vergleichen sie mit anderen Pensionierten die Preise, machen einander aufmerksam auf Läden und Angebote. Und so sehr kennen sie sich mittlerweile in Konstanz aus, sagen sie, dass sie sogar dann noch ihre Freitage alle zwei Wochen dort verbringen werden, wenn der Euro an Kraft gewinnen wird. Mittlerweile kennen sie andere Pensionierte, die ihre Lebensmittel jenseits der Grenze einkaufen. Man hat sich in der Bahn kennengelernt. Man fährt zusammen, unterhält sich, sucht gemeinsam ein Restaurant auf. Erst vor kurzem haben sie sich entschlossen, neue Fahrräder in Konstanz zu kaufen und sind dann an einem schönen Herbsttag zu viert hintereinander auf ihren neuen Rädern von Konstanz bis nach Schaffhausen geradelt. Jemand hat sie davor gewarnt, Fahrräder im Ausland zu kaufen. Eine Schweizer Werkstatt würde die Räder niemals reparieren. Das hat sie nicht davon abgehalten, auf Rädern unterwegs zu sein, denen man mit Kennerblick eine andere Staatsangehörigkeit ansehen könnte. Im Frühling wollen sie mit den Rädern nach Konstanz fahren, um den ersten Service ausführen zu lassen. Im Laden hätten man ihnen versichert, dass sie ihre Räder noch am selben Tag wieder haben könnten. Sie aber wollen zum ersten Mal über Nacht in Konstanz bleiben, um erst am nächsten Tag dem See entlang bis nach Romanshorn zu radeln.

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