Strandbilder

Was soll er auch noch alle die weissen Bauhaushäuser fotografieren, wo sie doch alle schon dokumentiert sind, sie alle in dicken Fachbüchern und in Fotobänden kunstvoll von Profifotografen festgehalten wurden. Es ist wie in Venedig, denkt er, es gibt Sujets, die schon so häufig, so intensiv fotografiert wurden, dass man sie nicht mehr fotografieren kann. Er liebt den langen Strand, die Caféhäuser und Restaurants, die sich unterhalb der dicht befahrenen Uferstrasse in den Bögen zwischen den Stützpfeilern der Promenade eingenistet haben. Die kleinen Clubtische und Sessel versinken unter dem Gewicht der Gäste langsam im weichen Sand. Wer den Sand in den Schuhen oder auf den niedrigen Tischen fürchtet, der setzt sich im Innern des Cafés oder an einen der Tische auf der breiten Betonplatte neben der Treppe hin, die vom Café zum Sandstrand führt. Es ist Frühling, der Badebetrieb ist noch lange nicht richtig in Gang gekommen. Vereinzelte Surfer in schwarzen Neoprenanzügen sind draussen auf ihren Brettern zu sehen. Wenige ältere Badende, die das kalte Wasser nicht scheuen, sind am Schwimmen. Kleine Kinder bauen mit Hilfe ihrer Eltern Sandburgen. Noch sind nicht alle Strandabschnitte geöffnet und fehlen die Liegestuhlvermieter, die hier im Sommer kontrollieren, ob man auch wirklich die Liege bezahlt hat. Auf den Fahnenmasten neben den Hütten der Bademeister flattern schwarze Fahnen, das Schwimmen ohne Aufsicht ist in diesen Sektoren streng untersagt. Nur am Frishman- und am Gordonstrand sind die auf hohen Stelzen stehenden Hütten der Lebensretter besetzt. Sie sitzen oben auf den schmalen Holzbalkonen, braungebrannte muskulöse Männer in Badehose und T-Shirt, den Feldstecher auf der Brust und rufen zwischendurch über die Lautsprecher in russisch oder hebräisch ins Meer hinaus: „He da draussen du, du bist zu weit weg!“. Oder: „Achtung, Achtung, wo sind die Eltern der Kinder, die im Frishman ins Wasser gehen?“

Er sucht den Strand immer wieder auf, macht Bilder. Nur selten sind darauf Menschen in Badekleidern zu sehen. Es sind Fotos vom Strand. Von den Fahrspuren der Putzfahrzeuge, die am frühen Morgen hier vorbeigefahren sind. Er macht Bilder von den feuchten Stellen, wo die Wellen gerade noch hinreichen und wo sie den Sand berührt haben, Übergänge zum trockenen Sand. Er nimmt die toten Quallen auf und angeschwemmte kleine Hölzer und Petflaschen. Die vielen farbigen Liegestühle aus Kunststoff, die zu Türmen aufeinander gestapelt sind oder abends umgekippt auf dem Sand liegen, um am nächsten Tag wieder aufgestellt zu werden. Er hält die Burgen weisser Plastikstühle fest, die auf den Saisonbeginn warten. Er macht Bilder von Sonnenschirmen in allen Farben, von geöffneten und geschlossenen. Nur die Sonnenschirme mit Bier- oder Zigarettenwerbung mag er nicht. Die hohen Hotelburgen an der Strandpromenade hat er fotografiert und immer wieder die vollen Teller, die die jungen Kellnerinnen den Gästen bringen: Hier essen sie schon zum Frühstück fein gehackten Gurken-Tomatensalat und Rührei mit Wurst, Humus und Tahin. Daran kann er sich nicht gewöhnen. Der leichte Wind, der manchmal Sand aufwirbelt, scheint die Gäste nicht zu stören. Hier treffen sie sich am Freitagvormittag und sogar am Samstag und unterhalten sich die Runden älterer Männer während Stunden immer wieder über dieselben Themen: Die marode Innenpolitik, die bestechlichen Politiker, die unsichere Lage an der Nordgrenze und über die Flugpreise nach Zürich, München, Berlin und New York. Er setzt sich hin, hört zu, manchmal fotografiert er sie heimlich, wie sie dasitzen und essen und mit den Händen beim Diskutieren gestikulieren. Er sammelt den Strand, hat bereits vor drei Jahren und vor zwei Jahren und letztes Jahr wieder hier fotografiert. Eigentlich sind es die immer gleichen Bilder. Er verbringt Stunden am Strand, aber nicht im Wasser. Und er hat die weissen Bauhaushäuser noch nie fotografiert.

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Eine Antwort zu Strandbilder

  1. ch.weise sagt:

    ich las schon ein paar dieser stories! sie haben einen besonderen charme, sind so ehrlich und man fühlt sich oft so ertappt. guggiesque eben! ch.weise

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