Miel et Confiture

Über zwanzig Jahre lang hat sie unterrichtet. Immer im selben Schulhaus. Sie war Grundschullehrerin der dritten und vierten Klasse. Und sie hatte genug davon. Als ihre Mutter starb, ergab sich die Gelegenheit zum Wechsel. Sie erbte das Haus, in dem sie aufgewachsen war, Vater zog ins Altersheim, sie konnte einen Traum verwirklichen. Sie wollte schon immer eine kleine Pension betreiben. ‚Bed & Breakfast’ steht seit vier Jahren an der Eingangstür, und weil sie die französische Sprache so mag, steht darunter noch ‚Miel et Confiture’. Sechs Zimmer vermietet sie, Bad und Toilette auf jeder der beiden Etagen, im Erdgeschoss befindet sich die offene Küche und der Aufenthaltsraum mit seinen zwei Sofas und dem langen Frühstückstisch. Die Fahrräder ihrer Gäste werden in der ehemaligen Garage neben der Waschmaschine abgestellt, dort sind sie vor dem Regen geschützt und vor Dieben. Vom Frühling bis in den späten Herbst hinein kommen die Gäste. Im Sommer könnte sie noch mehr Menschen unterbringen. Ihre Gäste radeln um den Bodensee, ihr Zimmerangebot steht im Internet und in den Prospekten, in denen für den Rundweg geworben wird. Morgens von sieben Uhr an gibt es Frühstück. Sie holt vorher noch beim Bäcker frisches Brot, ihr Frühstück kann es mit manchen Hotelangeboten locker aufnehmen. Ihre Gäste loben die sechs Konfitüren, keine davon hat sie im Laden gekauft, sie hat sie selber gemacht. Abwaschen müssen die Gäste nicht, sie werden bloss darum gebeten, Besteck und Geschirr in die Spülmaschine zu stellen. Einen Fernseher gibt es nicht, dafür einen freien Zugang zum Internet für diejenigen, die einen Laptop oder ein Handy dabei haben. Prospekte über Sehenswürdigkeiten legt sie auf. Bücher über die Region hat sie angeschafft. Und dann ist noch ihr Vater da. Vater kommt jeden Nachmittag nach dem Mittagsschlaf gegen drei vom nahen Altersheim, setzt sich draussen im Garten unter dem Vordach vor dem Aufenthaltsraum hin, vor ihm auf dem Tisch ein Wasserglas, die Gäste werden zu einem Glas Weisswein eingeladen. Vater war auch Lehrer. Und er ist immer noch Mitglied des Historischen Vereins. Jeder, der sich zu ihm hinsetzt, wird befragt: Von wo kommen sie, wo sind sie heute losgefahren, wohin wollen sie morgen weiterfahren, was hat Ihnen auf Ihrer Tour am besten gefallen? Und dann gibt es Erklärungen, dann erläutert er die Gegend, mal von Ost nach West, mal von West nach Ost. Und je nach Gästen empfiehlt er kleine Umwege: Unbedingt noch das nahe Wasserschloss anschauen. Oder die barocke Klosteranlage etwas oberhalb des Fahrradwegs, das kleine Museum, in dem Henri Dunants letzte Lebensjahre geschildert werden, nicht vergessen. Einen Halt in Bregenz nicht unterlassen, das Museum besuchen und dort keinesfalls den Aufzug benutzen, sondern die Treppe hinauf gehen. Im Sommer unbedingt die alte Badeanstalt in Rorschach aufsuchen, in Arbon der Geschichte der Lastwagenherstellung im Museum nachgehen. Er sitzt von drei bis sechs Uhr da und ist beschäftigt, es sind seine glücklichsten Stunden, er kann beschreiben und überzeugen, als ehemaliger Oberstufenlehrer hat er im Heimatkundeunterricht alle Sehenswürdigkeiten der Region mit den Schülern durchgenommen. Im Gästebuch von ‚MIel & Confiture’ wird er immer wieder erwähnt. „Haben uns schildern lassen, was wir morgen sehen sollten. Verenas Vater ist besser als jedes Reisebuch“. Vom Frühling bis Mitte Oktober ist er beschäftigt, dann sieht er jünger aus als seine 83 Jahre. Und wenn gegen Ende Oktober nur noch vereinzelte letzte Gäste bei seiner Tochter einkehren, sitzt er etwas einsam am Tisch unter dem Vordach und weiss, dass jetzt die stille, zu stille Zeit anbricht. Dann sehnt er sich nach dem Frühling. Dann wenn es früher heller wird, kommt die Zeit, in der er wieder zu erzählen hat. Beim Abendessen im Altersheim kann er wieder von den Gästen erzählen, denen er nachmittags von den Sehenswürdigkeiten der Region geschwärmt hat.

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Eine Antwort zu Miel et Confiture

  1. Ada.Josephine sagt:

    Irgendwann, schleichend, rollen die Gäste hinter seinem Rücken mit den Augen. Das hat er uns doch schon erzählt. Aber sie nicken weiterhin höflich, als würden sie seinem Gerede zuhören. Alte Menschen sind halt so. Leben von alten Geschichten. Doch sie bleiben nicht mehr so lange am Tisch bei dem alten Mann sitzen. Raffen geschäftig ihre Sachen zusammen. Wir wollen noch in die nahe Stadt…

    Verena umarmt ihren Vater, nimm noch ein Glas Wasser. Weißt du, jetzt haben fast alle Touristen Navigationsgeräte, sogar auf ihren Handys. Da brauchen die Gäste deine Tipps nicht mehr so sehr. Die suchen sich alles selber zusammen. Wissen genau, welche Sehenswürdigkeiten sie besuchen wollen. Meistens haben die sich alle Pläne und sogar Bilder ausgedruckt, so dass ich mich frage, weshalb sie die Orte überhaupt noch besuchen wollen. Wenn sie schon alles wissen. Und er nickt. Nichts ist mehr wie früher. Jaja. Und langsam stapft er zurück ins Heim. Gekrümmter als auch schon. Sein Gesicht verschliesst sich, immer mehr, so dass es kleiner scheint. Und nur noch wenige Worte finden über seinen Mund. Einzig Verena kann die Geschichten dahinter immer noch verstehen.

    Manchmal ruft das Altersheim an. Ihr Vater, er sei noch nicht zurück, ob er vielleicht noch bei ihr im Garten sitze. Und sie sagt ja. Immer. Weil sie nicht will, dass das Altersheim das Risiko nicht mehr tragen will. Und ihren Vater nicht mehr alleine gehen lässt. Sondern sagen könnte, wir müssen die Medikamente neu einstellen. Damit ihr Vater ruhiger wird. Das will sie auf keinen Fall. Sie weiss, dass er unten am See zu finden sein wird. An seinem Lieblingsplatz. Den findet er immer. Sie wird sich neben ihn setzen. Und er wird mit seiner Hand über den See zeigen. In die Ferne. Und nur sie hört, was er alles zu erzählen weiss. Immer noch

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