Am Strassenrand

Damals war noch alles, was einen Hauch von Amerika hatte, en vogue. Das war die Zeit von John F. Kennedy und Elvis Presley, die Zeit der chromblitzenden schönen Amischlitten. Einen Amerikaner kaufen, das konnten sich die Delormes aber nicht leisten. Und ohnehin wäre das zu sehr aufgefallen. Und so sehr von sich reden machen, wollten sie nicht: Sie waren Franzosen, deren Vorfahren Jahrzehnte zuvor in Algerien eingewandert waren, sie waren Rückkehrer aus Algerien, Franzosen, die noch nie zuvor in Frankreich gelebt hatten, die nach dem Algerienkrieg nicht mehr in Nordafrika bleiben konnten. Man wollte französisch sein, man musste es sein, man musste sich assimilieren, musste in Frankreich heimisch werden. Richtig französisch und gleichzeitig auf der Höhe der Zeit sein: Mit einem Simca Beaulieu, einem der damals grössten französischen Personenwagen, konnte man dazu gehören. Oder zumindest das Gefühl dafür bekommen, dazu zu gehören. Gummipuffer an den Stossstangen, zusätzlich zu den Fernlichtern zwei Nebelscheinwerfer, ein Kühlergitter voll Chromglanz wie bei den amerikanischen Oldsmobiles und Chevrolets, ein zweifarbiges Familienfahrzeug, dafür musste man einen Aufpreis zahlen, Jean Delorme konnte zeigen, dass er dazu gehörte. Am Samstag wurde der Wagen jeweils von den Kindern unter Aufsicht des Vaters gewaschen, die Politur der Chromteile besorgte er, das konnte man den Kindern wirklich nicht überlassen. Am Sonntag fuhr man regelmässig mit der grossen Limousine aufs Land, unternahm Ausflüge, um das Land, dessen Bürger man war, das man aber kaum wirklich kannte, auszukundschaften. Man fuhr an die Garonne, nach Albi oder Moissac, man fuhr in die Provence und ein einziges Mal sogar in die Normandie, um die Schlachtfelder des grossen Krieges zu sehen. Und weil der vorbei rollende Verkehr 1963 noch nicht auf der Autobahn mit ohrenbetäubenden Lärm an einem vorbeiraste, konnte man den Wagen mittags zum Picknick am Strassenrand anhalten, konnte Käse, Saucisson, Jambon, gekochte Eier, Tomaten und Brot, auf die breite Kühlerhaube auf einem ausgedienten Teppich und auf zwei Küchentüchern ausbreiten. Grossmutters Kuchen war auf dem Kuchenblech mitgekommen und aus dem Thermoskrug gab es Kaffee, damals noch nicht in Pappbechern. Die Baguette kaufte man unterwegs, die Bäckereien waren schon damals am Sonntagvormittag offen. Jean Delorme holte ein Taschenmesser hervor, mit dem er für alle Brot, Wurst und Käse schnitt. Und weil damals die Autoradios noch nicht zu jedem Wagen gehörten, holte man das Transistorradio der Marke Optalix aus dem Kofferraum, stellte ihn auf das Dach der Limousine und suchte sich seinen Sender: Die Kinder wollten immer unbedingt Europe 1 auf Langwelle hören, die Hits der Sendung „Salut les copains“ mussten es sein. War Europe I nicht zu hören, kam nur noch Radio Monte Carlo mit seinem Popmusik-Programm in Frage. Was machte man nicht, damit die Kinder zufrieden waren: Nochmals France Gall, nochmals Sheila, Joe Dassin, Françoise Hardy und wieder und wieder Johnny Halliday. Wenn keine Mauer am Wegrand Sitzgelegenheit für die ganze Familie bot, dann holte Jean Klappstühle und einen Falttisch aus dem Gepäckraum. Und weil Jean immer an alles dachte, lagen an den Wochenenden auch stets genügend weiche Kissen im Kofferraum, damit man sich auch auf jede Mauer und auf jeden Stein bequem hinsetzen konnte. Einmal hatte Jean sogar einen Blumentopf dabei, den er auf die Kühlerhaube stellte. „Du bist doch nicht ein Holländer“, nahmen die anderen ihn hoch. Wie ulkig man diese Holländer doch fand, die stets einen kleinen Blumentopf im Auto auf die Reise mitzunehmen schienen. Einmal hielten zwei junge Polizisten der Gendarmerie nationale ihre schwarzen Motorräder neben dem Simca Beaulieu an. Ihnen kam die Autonummer mit Ziffer 9 und dem Buchstaben K und auf den Kontrollschildern suspekt vor: Ihr habt die Kennzeichen wohl selber hergestellt? Man lachte laut und Jean und die anderen luden die beiden Gendarmen, die offenbar bloss eine Pause machen wollten, zu Brot, Käse und Wurst ein. Darüber, dass die beiden auch noch dem Wein zusprachen, wunderte und ärgerte sich niemand. So war das damals noch.

Dieser Beitrag wurde unter Allgemein veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert