Paris Syndrom

Dauerregen in Leipzig. Ich hatte mir vorgenommen, mit der Kamera jene Zeichen festzuhalten, die nach zwanzig Jahren immer noch an die DDR-Zeit erinnern: Namen von Firmen und Kombinaten wie Robust, Spartakus, Statron oder Simson mit der Abkürzung VEB hinter dem Namen. Ich wollte Fassadenbildern von Pionieren, Bauern und Industriearbeitern ebenso nachgehen wie Strassenschildern mit Namen von früher. Jemand hatte von Strassennamen aus der SED-Zeit erzählt, die man ausserhalb der Stadtmitte immer noch antreffen könne. Womit ich nicht gerechnet hatte, war der starke Dauerregen. Zwei Tage für Leipzig. Zwei Tage, an denen ich die Stadt kaum sah. Es regnete nämlich ununterbrochen, der orkanartige Wind zerriss meinen Regenschirm beim Versuch eine nicht sanierte Häuserfront zu fotografieren. An Fotografieren im Regenwind war leider nicht zu denken. Dass der Hauptbahnhof der grösste Sackbahnhof Europas ist, musste ich einfach glauben, so oft stand das in den Reisebüchern und in den Stadtprospekten. Von aussen habe ich den Bahnhof nicht wirklich gesehen, weil ich dem Taxifahrer erklären musste, wo mein Gästezimmer mit dem Namen ‚Paris Syndrom’ liegt und was ein ‚Paris Syndrom’ ist. Mein Übernachtungsort war die Gästewohnung der Galerie für zeitgenössische Kunst an der Karl-Tauchnitz-Strasse, die man mieten kann, wenn man schlafen, kochen und arbeiten will. Ein Künstler aus China hat die Wohnung gestaltet: Sehnsuchtsbilder von grossen Städten hängen in den beiden Räumen von ‚Paris Syndrom’ an den Wänden: Die Place de la Concorde, die Fontana di Trevi , die Rialtobrücke, die Plaza Mayor. Und grosse Schulwandkarten von Nord- und Südamerika sowie vom Nahen Osten. Wer hier übernachtet, kann sich an Sehnsuchtsorte wie Petra oder Rio auf den grossen Karten weg phantasieren. Wer in Leipzig ankommt, der erwarte das Mittelmass einer mittelgrossen Stadt aber keine romantische Nächte, daher der Name, erklärte mir die junge Frau an der Theke vom Café Kafic nebenan, die mir den Schlüssel für die Atelierwohnung überreichte. Ich litt nicht an einem Paris Syndrom, eher wohl am Dauerregen. Ich kam in den zwei Tagen kaum aus der Wohnung weg. Ich habe aus Leipzig keine Aufnahmen von Hausfassaden mit Namen von ehemaligen DDR-Firmen mitgebracht. Der Dauerregen war so stark, dass ich nicht mal bis zum Kulturzentrum Leipziger Baumwollspinnerei mit seinen vielen Ausstellungsräumen und Künstlerateliers kam. Ich bin im angenehm geheizten Gästezimmer von ‚Paris Syndrom’ geblieben. Auf dem grossen Stadtplan, mit dem ich imaginäre Stadtspaziergänge unternahm, bin ich so schönen Strassennamen nachgegangen wie Am Bauernteich, Amorbacherstrasse, An der Märchenwiese, Barfussgässchen, Bei der Krähenhütte, Czermaks Garten, Dreiecksweg, Eichelhäherweg, Erlkönigweg, Froschkönigweg, Goldhähnchenweg, Güldengassaer Strasse und Hasenpfadweg. So schön klingen Leipziger Strassennamen. Grund genug, um die Stadt wieder zu besuchen. Es gibt schönere Namen als Robust, Spartakus, Statron und Simson.

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2 Antworten zu Paris Syndrom

  1. EL sagt:

    Lese Deine Kurzgeschichten immer mit grossem Interesse, Vergnuegen und einem breiten Laecheln, Dein feiner, philosophischer Humor ist beneidenswert. Und woher nimmst Du all diese aphoristischen Gedanken, Ideen, Bilder ! Ehud

  2. troth sagt:

    na, endlich wieder neue texte, hab schon gemeint ich müsse dich rügen. baarilla

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