Ein Mitbringsel für Mutter. Früher als sie noch Kind war, brachten die Eltern von ihren Reisen immer Andenken mit. Und jedes Mal ein Geschenk für die Tochter. Jetzt ist Mutter fast achtzig. Mutter reist nicht mehr. Ihre Tochter aber ist immer wieder unterwegs. Drei Tage in Toulouse, ein verlängertes Wochenende in Amsterdam. Und jedes Mal gegen Ende des Urlaubs dieselbe Situation: Sie sollte doch Mutter, die im Altersheim wohnt, ein kleines Geschenk mitbringen. Manchmal fragt Mutter: Hast du mit etwas mitgebracht? Es ist dieselbe Frage, die sie als Kind gestellt hat. Am Blumenmarkt in Amsterdam hat sie Blumenzwiebeln gekauft, Tulpen für den Frühling für Mutters Balkon im Heim. Aber dann hat sie die Blumenzwiebeln ihrer Nachbarin geschenkt, die ihren Briefkasten während ihrer Abwesenheit geleert und die Zimmerpflanzen gegossen hat. Mutters Augen sind schwach. Ein Bildband kommt nicht in Frage. Und ohnehin: Was soll Mutter mit einem Bildband aus einer Stadt, die sie nicht kennt? Manchmal ist sie ratlos. Sie würde Mutter gerne etwas von einer Reise mitbringen, weiss aber nicht was. Mutter war noch nie in Paris. Ein kleiner Eiffelturm kommt nicht in Frage. Ein Seidenschal aus dem Louvre? Mutter hat schon so viele Halstücher. Es ist das schlechte Gewissen, das sie plagt. Eine Thüringerwurst aus Jena? Mutter kocht nicht mehr, Mutter isst im Speisesaal mit den anderen Heimbewohnern. Eine Packung Tee von TeeGschwendener aus Berlin? Mutter würde die Qualität des teuren Tees nicht wirklich schätzen können. Mutters Tees, die sie in der kleinen Küche zubereitet, sind Beuteltees. Sie sitzt im historischen Gasthaus Coffe Baum an der Kleinen Fleischergasse in Leipzig, in zwei Stunden fährt ihr Zug ab. Jetzt sieht sie die kleine Tafel, auf der „Lepiziger Lerche“ angeboten wird, ein Makronentörtchen mit Mandelmasse, hübsch in durchsichtigem Cellophan verpackt. Das ist ihr Mitbringsel für Mutter. Teuer ist’s nicht, eine süsse Aufmerksamkeit. Sie lässt sich von der Kellnerin eine Leipziger Lerche geben, hübsch verpackt mit einem farbigen Bändel. Mutters Augen sind zu schwach als dass sie die Aufschrift „Spezialität aus Leipzig“ erkennen könnte. Zum ersten Mal seit längerer Zeit wieder ein Mitbringsel! Erst in der Bahn auf der Rückfahrt fällt ihr ein: Mutter hat Altersdiabetes, die Marzipanspeise ist kein geeignetes Geschenk. Als sie die Leipziger Lerche isst, kommt wieder das schlechte Gewissen. Mutter wird wieder fragen: Hast du mir etwas mitgebracht?
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Der Blogeintrag erinnert mich an einen kürzlichen Besuch meiner Mutter. Sie bringt immer ein Mitbringsel mit, wenn sie eingeladen wird. Und dann gab sie uns ein Säckchen Schokolade und meinte: „Ein kleines ‚Bringmitsel'“ und für erinen Moment fand sie das richtige Wort nicht mehr und hatte uns zugleich ein neues Wort, das Bringsmitsel gebracht. Emamil