Reiseführer

Angefangen hatte es mit einer Reise in den Osten Deutschlands. In einem Buchantiquariat im Keller eines Hauses in Stralsund lag in einer Bücherkiste ein Baedeker Reiseführer Schweiz aus dem Jahr 1853 mit dem schönen Titel „Die Schweiz. Handbuch für Reisende, nach eigener Anschauung und den besten Hülfsquellen“. Ein abgegriffener Band, der rote Bucheinband wies Feuchtigkeitsspuren auf. Die im Reiseführer angegebenen Preise für eine Übernachtung in Brunnen am Vierwaldstättersee oder in Rorschach wirkten unvorstellbar tief, die Reisezeiten mit der Kutsche von Luzern über den Brünigpass nach Interlaken kamen ihm unerhört lang vor. Der Preis, den der Antiquar für den alten Baedeker verlangte, betrug lächerliche 20 Euro. In der Schweiz hätte er das Buch für das Vierzigfache verkaufen können, wie er heute nicht ohne Stolz erzählt. Baedeker Schweiz war der erste Band. Ihm fiel auf, dass alte Reiseführer nur dann teuer sind, wenn man sie in jenem Gebiet kauft, von dem sie handeln. Acht Jahre sind es her, seitdem er in Stralsund seinen ersten Baedeker gekauft hat. Seine Ferien gelten seither der Jagd nach alten Reiseführern. Er reist von einem Antiquariat zum nächsten, obschon er im Internet nachforschen könnte, wo alte Reiseführer angeboten werden. Er hat mit der Zeit einen besonderen Suchblick für alte Reisehandbücher entwickelt. Am liebsten sind ihm jene Antiquariate, in denen auf den ersten Blick eine Unordnung herrscht, sich die Bücher ohne eine wirkliche Ordnung in die Höhe türmen, so dass sich die meisten Kunden beim Hinschauen verlieren. Er aber findet auch im offensichtlichen Durcheinander der Bücherberge seine Bücher. Er weiss, dass er gerade in kleinen Städten die besten Funde macht. Er hat viel Geld ausgegeben. Und er hat mittlerweile einen Raum mieten müssen, wo er die Reiseführer in Regalen nach Länder und Regionen geordnet hat. Er hat den ersten Badedeker Indien aus dem Jahr 1914. Er ist stolz auf seinen „Ägypten. Handbuch für Reisende. Zweiter Theil. Ober-Ägypten und Nubien bis zum zweiten Katarakt“ aus dem Jahr 1891, den er im holländischen Dokkum in einem Laden für bloss 25 Euro gefunden und ein Jahr später in Frankfurt für 900 Euro nochmals gesehen hat. Er zeigt Freunden gerne Baedekers „Conversationsbuch für Reisende in vier Sprachen, deutsch, französisch, englisch, italienisch. Nebst einem Wortverzeichniss, kurzen Fragen etc“ aus dem Jahr 1888. Als Besonderheit bezeichnet er Baedekers „Das Generalgouvernement. Reisehandbuch“ aus dem Kriegsjahr 1943. Sein Lieblingsband ist allerdings Baedekers „Palestine et Syrie. Routes principales à travers la Mésopotamie et la Babylonie. L’Ile de Chypre. Manuel du voyageur“, der 1912 herausgegeben wurde. Er mag diese Ausgabe besonders wegen den Abbildungen biblischer Stätten. Er könnte heute seine Stelle aufgeben und aus seiner Leidenschaft einen Beruf machen. Denn mittlerweile sammelt er auch alte englische und italienische Reiseführer. Er liest sich durch Erstausgaben, reist im Kopf durch Kanada, wo er noch nie war genauso wie durch die Türkei oder Portugal. Die halbe Welt von früher ist in seinen Regalen zu Hause.

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