Wohnungsräumung

Die Wohnungstür liess sich leicht öffnen. Das war nicht das erste Mal, dass er diese Feststellung machte. Alte Leute, die alleine leben, geben es mit der Zeit auf, ihre Wohnungen zu pflegen und in Stand zu halten. An einem Ort quietschen die Türscharniere, dort läst sich eine Zimmertür nicht richtig schliessen, in einer anderen Wohnung heizt der Badezimmerboiler nicht mehr richtig auf. Irgendwann müsste die Stiftung für das Alter ein neues Serviceangebot für alleinstehende Betagte machen, dachte er. Er schloss die Tür hinter sich ab, ein Geruch, den er gut kannte, füllte die Wohnung. So riechen die Wohnungen der Alten. Die Einrichtung sah etwas schäbig aus, das Mobiliar war wohl vor fünfzig Jahren angeschafft worden. Weshalb richten sich ältere Menschen nicht irgendwann ganz neu ein, wo es ihnen erfahrungsgemäss nicht an Geld mangelt? Man müsste den Mut haben, einmal im Leben das ganze Mobiliar und die Stilleben, diese ewig gleichen Blumenbilder, in eine Mulde zu kippen oder einem Altwarenhändler zu übergeben, um sich in den eigenen vier Wänden eine neue Umgebung zu schaffen. Immer dieses verbrauchte Geschirr, immer wieder dieses alte Silberbesteck mit den Monogrammen. Er schaute sich die drei Zimmer und die Küche an, dann nahm er sich Zeit, länger als eine halbe Stunde würde er für die erste Runde nicht benötigen, höchstens zehn Minuten pro Zimmer. Er kannte seine Klienten, obwohl er sie nie persönlich kennengelernt hatte. Er setzte sich im Wohnzimmer, nahm die Pfeife aus seiner Tasche, er durfte hier rauchen, in den kommenden Tagen würde der Tabakgeruch hier ohnehin niemanden mehr stören. Er wollte den Geruch des Alters, der in dieser Wohnung hing, vertreiben, weil seine Phantasie erst dann zu arbeiten begann, wenn er sich in den Duft des Tabaks hüllte. Fünf Minuten lang schaute er sich im Wohnzimmer um. Im Schlafzimmer setzte er sich kurz auf den Bettrand, um den Raum zu inspizieren, im Esszimmer waren es nochmals zehn Minuten, in denen er sich umschaute, ohne etwas berühren zu müssen. Dann ging er wieder ins Wohnzimmer zurück, wo er die Schallplattensammlung aus dem Gestell herausnahm, um eine Platte nach der anderen sorgfältig aus ihren Hüllen heraus zu holen. Nachdem er die Langspielplatten wieder ins Gestell zurückgelegt hatte, holte er alle Medikamente aus dem Nachttisch im Schlafzimmer. Unglaublich die Sammlungen von Pillen und Salben, die er immer wieder vorfand. Die Apotheken und die Ärzte schienen sich an den kranken Alten satt zu verdienen. Anschliessend holte er im Esszimmer die Spirituosen und Weinflaschen aus dem Wandschrank. Alte Menschen müssen Eierlikör lieben. Eine halbe Stunde später hatte er den ersten Arbeitsgang hinter sich. Erst jetzt holte er die Formulare aus der Mappe, um sie auszufüllen. Das Erstellen des Inventars dauerte erfahrungsgemäss pro Zimmer bloss wenige Minuten, er musste nur noch Zahlen eintragen, weil er seine Listen mit den Jahren perfektioniert hatte. Rechtzeitig vor dem Mittagessen verliess er die Wohnung, versiegelte die Tür, und verliess das Haus. Noch diese Woche würden die Angestellten des städtischen Entsorgungsdienstes unter seiner Aufsicht die Wohnung räumen. Die Goldmünzen würden sie nicht mehr finden, auch nicht die versteckten Tausendernoten. Im Tätigkeitsbericht des städtischen Liegenschaftenamtes würde er auch dieses Jahr auf die Dienstleistung der Amtstelle hinweisen, die Wohnungen verstorbener Betagter erwähnen, die die Dienststelle für nur zweihundert Franken geräumt hatte.

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Eine Antwort zu Wohnungsräumung

  1. eva-maria sagt:

    „Du wirst ihn bekommen, wenn ich einmal nicht mehr bin.“ Tante Berta nickte heftig. Ich schaute fragend. „Robert hätte es so gewollt.“ Ihre Finger nestelten an ihrem Hals. „Wenn ich einmal nicht mehr bin, dann bekommst du ihn.“

    Zum ersten Mal hatte mir Tante Berta davon erzählt, da war ich 15. Und ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich das jemals erleben würde. Tante Berta war zwar alt. Doch quicklebendig. Und Robert war mein Patenonkel. Ich liebte ihn über alles. Er hatte selber keine Kinder und wusste nicht, wie man Kinder umarmt. Doch seine Augen blickten warm durch das strenge Brillengestell. Ich hatte ihn gern.

    Er starb, als ich während den Schulferien in Evian Französisch lernte. Als jeune fille. Wie ich nach Hause kam, war er schon tot. Und lag als Leiche im Sarg. In der Stube. Ungewöhnlich spitz im Gesicht und die Augenbrauen so schwarz und buschig. Ganz anders sah er aus. Tot und ohne Brille, als würde er schlafen. Ich hatte Onkel Robert nie schlafend gesehen. Als er noch am Leben war.

    Kurz darauf zeigte mir Tante Berta den Anhänger. „Ich hab mir ein Schmuckstück machen lassen.“ Sie trug ihn am Hals. Den Ehering von Onkel Robert, verziert mit einer kleinen Perle. „So ist er immer bei mir.“ Und ich sah Onkel Robert deutlich vor mir. Wie er schluckte und sein Adamsapfel am Hals hüpfte. Er hätte sich gefreut.

    Viele Jahre später. Meine Mutter rief mich an. „Wenn du Tante Berta noch lebend sehen willst…“ Zusammengesunken lag sie im Bett. „Schön, bist du da.“ Ich hörte ihren Atem. „Ich hab’s nicht vergessen.“ Ich schaute fragend. „Den Anhänger. Den bekommst du. Robert war doch dein Patenonkel. Ich hab alles aufgeschrieben. Du wirst ihn bekommen.“

    Bei Tante Bertas Beerdigung war es kalt. Eisiger Wind, rote Augen, klamme Finger. Tante Bertas Geschwister, sie waren mir fremd. Es war ihr Bruder, der zu mir kam. „Wir haben ihn nicht gefunden.“ Ich schaute fragend. „Den Anhänger. Der dir Berta versprochen hat. Wir haben ihn nirgends gefunden. Beim Räumen des Zimmers.“ Ich schneuzte mich. „Nimm es dir nicht so zu Herzen. Er hätte nicht zu dir gepasst.“ Mutters Worte passten auch nicht.

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