„Das Wasser muss kochen, dann lässt du es langsam bis 80 Grad Celsius abkühlen und erst dann füllst du die Teekanne. Grüntee darf nicht mit kochendem Wasser aufgegossen werden.“ „Und übrigens“, fügte sie an, „Teesäckchen kannst du vergessen, ich hasse Tee, der mit Teebeuteln zubereitet wird.“ „Und vergiss nicht, die Teekanne rechtzeitig vorher mit kochend heissem Wasser vorzuwärmen, das braucht sie! Dieses Wasser schüttest du anschliessend aus, erst dann wird der Tee aufgegossen“. Sie öffnete die Schublade und ich sah die Teedosen, sicher an die zwanzig Stück, zwanzig verschiedene Metalldosen, alte Dosen, die sie gesammelt und an Antiquitätenmärkten oder bei -händlern gekauft haben musste: Darjeeling und Lapsang-Souchong, Assam Borsiliah, Himalaya Green, Maroccan Mint Leaf, Green Mangolai, English Breakfast und Afghan Bloom, Ceylon Oolong Handunogoda und Java Taloon. „Morgens nimmst du Himalaya Green“, sagte sie, „drei Löffel genau und einen Liter Wasser, 80 Grad Celsius, hier ist das Heisswasser-Thermometer.“ Noch nie zuvor hatte ich einen Teewasser-Thermometer gesehen. Ich war beeindruckt und auch etwas ängstlich. „Drei Minuten soll der Himalaya Green ziehen, genau drei Minuten, hier ist die Küchenuhr, drei Minuten und nicht länger!“ Ich wusste nicht, dass Teezubereitung etwas so präzises sein musste, das fast einem chemischen Experiment gleicht. „Exzellent!“, sagte sie am nächsten Morgen, “wunderbar dieser Himalaya Green“. Ich hatte die Prüfung als Teekocher bestanden. Auch am nächsten und übernächsten Morgen. Meine Gastgeberin, in deren Wohnung ich zwei Monate lang bleiben konnte, war mit mir zufrieden. Jeden Morgen bereitete ich ihren Morgentee zu, jeden Morgen, so unser Ritual, frühstückten wir gemeinsam: Sie trank ihren Himalaya Green und ich meinen Milchkaffee. Und jeden Morgen sagte sie „Exzellent“, war mit meinen Teekochkünsten zufrieden: Drei Löffel Tee, 1 Liter Wasser, 80 Grad Celsius, drei Minuten. Und sie war es auch dann noch, als ich längst dazu übergegangen war, Grünteebeutel von Lidl mit siedendem Wasser zu übergiessen und den Tee zehn Minuten ziehen zu lassen. „Exzellent“, sagte sie weiterhin.
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Verehrtester
Erlaube, dass ich auf deinen Text Bezug nehme und meine Sichtweise dazu stelle. Was war es mir eine Freude und Ehre, dich als einen so angenehmen Gast bei mir aufzunehmen. Unsere gemeinsame Frühstückzeit habe ich tief geschätzt. Dein ernsthaftes Nicken, wenn ich dir mein Teeritual erklärte. Dein höfliches Aufstehen, wenn ich in das Frühstückszimmer trat. Dein achtsames Brot reichen, kaum fiel mein Blick suchend über den Tisch. Deine eloquente Art über die Geschehnisse in der Welt zu diskutieren. Ich dachte, in dir den idealen Gast und Gesprächspartner gefunden zu haben.
Ich hab mich jedoch getäuscht. Dies schmerzt mich am meisten. Denn ich hätte es mir denken können. Wie du mit flatternden Lidern auf meine Teesammlung blicktest. Da hätte ich meiner inneren Stimme Gehör schenken sollen. Dass etwas nicht stimmt, wenn ein Mann angesichts ein paar Dosen unterschiedlichen Tees ins Schlittern gerät. Doch ich wollte dir eine Chance geben. Und dachte, du würdest dieses besondere Gespür für Tee schon entwickeln. Deine feingliedrigen Hände liessen mich darauf schliessen. Zu Beginn sah es auch ganz danach aus. Die erste Woche klappte alles exzellent. Mein Tee schienst du so zubereiten zu können, wie ich dich geheissen. Wie war ich da überrascht, dass dich schon nach einer Woche dein Ehrgeiz im Stich liess. Da bist du mit läppischen Teesäckchen angetanzt. Hast sie wohl getarnt in deiner schwarzen Aktenmappe in meine Küche geschmuggelt. Dachtest, ich würde dies nicht bemerken. Doch ich hasse sie wirklich, diese Teebeutel, so dass ich sie blind aus sämtlichen Teeproben herauszukosten vermag.
Du bist in dem irrigen Glauben, dass ich es nicht bemerkt habe. Weshalb ich trotzdem schwieg? Mon cher, auch das ist eine Frage des Stils. Ich wollte dich nicht bloss stellen und hab mir meinen zweiten Tee um elf gebrüht, so wie ich ihn gerne mag. Dann, wenn du schon längstens deinen Geschäften nachgingst.
Ich hätte dich in dem Glauben gelassen. Wirklich. Auch weil ich die Zeit mit dir so genossen habe. Doch jetzt lese ich, wie du dich über mein „exzellent“ mokierst. Schade.
Zu meinem Bedauern muss ich Ihnen mitteilen, dass meine Gastfreundschaft Ihnen in Zukunft nicht mehr zur Verfügung stehen wird.
Hochachtungsvoll
Mme Y.