Jedes Jahr im Herbst räume ich auf. Seitdem mein Büchergestell bis auf den letzten Platz voll ist und die Bücher auf dem Boden im Wohnzimmer kleine Türme bilden, müssen Bücher immer wieder abgetragen werden. Im Papier-Abfallcontainer unserer Wohnsiedlung werden regelmässig Bücher entsorgt. Bücher wegwerfen? Nein, das bringe ich nicht übers Herz. Bücher, die ihren Platz räumen müssen, packe ich in einen Rollkoffer und lade sie im „Offenen Bücherschrank“ ab. Es ist schon vorgekommen, dass ich ein Jahr nachdem ich eine Bücherladung weggebracht habe, noch zwei oder drei Büchern im Bücherschrank begegnet bin, die noch vor etwas mehr als einem Jahr mir gehört haben. Immer steht irgendjemand vor dem offenen Bücherschrank, schaut sich die Buchtitel an, öffnet zaghaft den Schrank, blättert in einem Buch, das er dann mitnimmt. Ich sortiere jeweils die mitgebrachten Bücher: Die Romane unten, die Sachbücher werden auf den oberen Tablaren gestellt. Wie spannend es ist, sich die Titel und die Autorennamen im offenen Bücherschrank anzuschauen. Manchmal staune ich darüber, was andere Leser hier haben liegen gelassen. Und ich gebe zu, dass ich manchmal dreissig oder mehr Bücher abgeladen habe und den Ort mit drei oder sogar vier neuen Büchern den Bücherschrank wieder verlassen habe. Tynset von Wolfgang Hildesheimer habe ich schon vor einem langen Warten im Bücherschrank gerettet. Oder eine signierte Erstausgabe von Adolf Muschgs „Liebesgeschichten“. Wie konnte bloss jemand ein solches Buch entsorgen, fragte ich mich, als das Buch in meinem Koffer verschwand. Der offene Bücherschrank ist wirklich eine wunderbare Erfindung. Man bringt und holt, man zahlt nichts. Eine Art Bibliothek ist dieser Bücherschrank. Ein Ort, an dem man Funde machen kann. Als ich beim letzten Mal wieder mit leichtem Koffer zuhause ankam und Esther meine Fundstücke zeigte, schaute sie mich erstaunt an. Esther hatte Recht: Joseph Breitbachs Roman „Bericht über Bruno“ stammte aus meiner Bibliothek.
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