Mitten auf dem kleinen Platz in der Altstadt von Domodossola steht er vor dem Brunnen und hält ein Buch in der Rechten. Rhythmisch bewegt er sich hin und her, stützt sich mal auf das rechte Bein und dann auf das linke, beugt sich leicht nach vorne, verneigt sich und steht wieder aufrecht. Zwischendurch schaut er das Buch an, er deklamiert etwas, er scheint einen Text auswendig zu lernen, aber es ist mehr ein Flüstern, er blickt nicht um sich, schaut einzig das aufgeschlagene Buch an, zwischendurch schliesst er die Augen, wohl um sich besser konzentrieren zu können, er memoriert seinen Text. Mal holt er mit einer Armbewegung aus, als gelte es etwas im Text zu bekräftigen. Er scheint eine endlos lange Rolle auswendig zu lernen. Nach einer geraumen Zeit wechselt er seine Position, stellt sich mit dem Rücken an eine Hauswand, er wird etwas lauter, doch nicht wirklich laut. Als er mich sieht und merkt, dass ich ihn fotografiere, kommt er schnellen Schrittes auf mich zu, freundlich. Nein, er fragt mich nicht, was das soll. Er fragt auf Deutsch: „Welche Zeit ist es?“. Nicht „Wie spät ist es?“. Und bevor ich ihm die Zeit nennen kann, greift er kräftig nach meiner Linken, neigt seinen Kopf, schaut das Zifferblatt an und murmelt: „Ho fretta“. Er lässt meine Hand los und eilt davon, als ob er jetzt zur Probe müsste. In seiner Linken, ich habe es sehen können, hält er den Fahrplan der Regionalbahnen, es ist kein Textbuch, es ist keine Rolle, die er auswendig lernt. Der Frisör, der uns beiden zugeschaut hat, winkt mich herbei. „So ist er, er ist harmlos“, sagt er.
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Sie gehen davon aus, dass jeder ihrer Leser Italienisch versteht und weiss, was „Ho fretta“ heisst. Sollten Sie nicht eine Hilfe bieten? Heisst „Ho fretta“ etwa, dass der Typ Angst hat? Oder gar Hunger? Weshalb verschwindet der Mann so schnell? Bitte erklären! Hans Steiger
Was für ein schöner Gedanke.
Ich stünde, irgendwo in einem Ort, an eine Hausmauer gelehnt. Fände keine Worte für mein Leben, so dass ich Tabellen, Fahrpläne, Kochrezepte, oder vielleicht Fernsehprogramme rezitierte. Mal flüsternd. Mal lachend. Mal weinend. Mal drohend. Fände so eine Möglichkeit zu überleben. Und begegnete ich dann einem andern Menschen, der mich interessiert beobachten täte und mir Auskunft über die Zeit in der Welt gäbe. So dass ich wüsste, ich muss mich beeilen. Denn mein Leben ginge ja weiter. An einem andern Ort. Und ich erführe ausserdem, der andere Mensch schriebe über diese Begegnung mit mir eine Geschichte.
Was für ein schöner Gedanke.