Als der Zug an der letzten Haltestelle vor der Landesgrenze anhält und die Lautsprecherstimme die Reisenden auffordert auszusteigen, staunen die beiden Damen. Sie haben Fahrkarten nach Domodossola gelöst, der Zug aber hält hier und fährt nicht weiter. Sie haben den fahrplan nicht richtig konsultiert. Jetzt müssen sie eine Stunde lang warten, bis der nächste Zug kommt, der weiter nach Domodossola fährt. Der kleine Bahnhof weist einzig einen Fahrplan hinter Glas auf und einen Fahrkartenautomat. Die Schalterhalle muss vor Jahren geschlossen worden sein. In einem kleinen Anbau sind die Toiletten, auch sie sind geschlossen, sonst ist hier nichts. Kein Dorf, kein Kiosk. Der Zug, mit dem sie angekommen sind, wird bald zurückfahren. Sie stehen da, sind verärgert, sie schimpfen über die Bahn, darüber, dass der Zug nicht weiterfährt. Es ist kurz nach zehn und die Sonne brennt schon, kein schattiger Platz ist zu sehen, auch der ehemalige kleine Warteraum ist geschlossen, sie sitzen neben dem Stationsgebäude auf einer Mauer in der prallen Sonne und lästern weiter über den Fahrplan, über die Tessiner und über Italien bis ein alter Mann sich zu ihnen setzt. Er hat eine Pfeife im Mund, aber er raucht nicht. Vorgestern und gestern hätte es geregnet. Das verstehen sie, weil er nach oben zeigt, das Wort ‚piove’ mehrmals wiederholt und mit den Händen den fallenden Regen nachmacht. Morgen werde es wieder regnen. Das verstehen sie, weil sie das Wort ‚domani’ kennen. Der Juni sei verregnet gewesen. Und der August werde auch nass sein. Sie hätten Glück mit dem Wetter, heute sei der erste schöne Tag seit langem. Das sagt er und es ist nicht klar, ob sie das verstehen. Dann schweigt er. Und weil ihr Vokabular in der fremden Sprache bloss ausreicht, um eine Pizza oder Spaghetti und dann die Rechnung zu bestellen, unterhalten sie sich zu zweit nochmals über das Wetter. Sie versichern sich gegenseitig, welch ein Glück es sei, sich gerade heute für den Ausflug nach Domodossola entschieden zu haben. Und während der alte Mann neben ihnen einnickt und leise zu schnarchen beginnt, zählen sie ihre Euros, erzählen sich gegenseitig, was sie auf diesem Tagesausflug in Italien einkaufen werden, wo doch der Schweizerfranken derzeit so stark sei. Sie haben beide ihre Sommerhüte aufgesetzt, aber die Hitze macht ihnen zu schaffen. Sie wundern sich darüber, dass der Zug, der sie nach Domodossola bringen soll, nicht kommt. Vor fünf Minuten hätte er kommen sollen. Jetzt sind schon zehn Minuten vergangen und fünfzehn, als die Lautsprecherstimme ertönt. Es ist eine spitze Stimme und die Frau am Lautsprecher spricht so schnell, nur sagt sie nichts von Acqua Minerale oder Pizza Quattro Stagioni. Sie sitzen da, während der alte Mann weiterhin leise schnarcht und sie wissen noch nicht, dass sie heute nicht in Domodossola ankommen werden.
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