Als er fünfzig war, hat er das Haus von seinen Eltern geerbt. Sie waren zu alt, um das Haus weiterführen zu können. Seit zwanzig Jahren ist es mittlerweile sein Hotel. Nach Jahren, in denen er im Ausland gearbeitet hatte, war er zurückgekehrt, um das Haus, das seine Eltern vier Jahrzehnte lang geführt hatten, zu übernehmen. Er hätte damals das Haus umbauen, die Zimmer ganz neu einrichten sollen. Er hat den Zeitpunkt verpasst. Damals lebten seine alten Eltern noch und er getraute sich nicht, das Haus, das die beiden so lange geführt hatten, neu einzurichten. So hängen die alten Bilder immer noch in den Zimmern. Und durchgehende Doppelbetten fehlen hier immer noch. Ein Jahr noch, höchstens zwei wird er an der Rezeption sein, die Hotelgäste morgens im Frühstücksraum begrüssen, sich abends nach ihren Ausflügen erkundigen. Dann will er sich zurückziehen. Immerhin ist er schon siebzig. Das Haus müsste dringend saniert werden. Doch dazu wird es kaum mehr kommen. Mehrmals schon hat er das Hotel zum Verkauf angeboten. Doch niemand findet sich, der das Haus an der Durchgangsstrasse kaufen und Geld in eine Renovation stecken will. Dass trotzdem immer noch Gäste kommen, hat mit ihm zu tun. Die Gäste mögen ihn. Sie schätzen das Altmodische an ihm und am übrigen Personal. Er kann seine Gäste nämlich wie kein anderer Hotelier am Ort auf Ausflüge und auf Sehenswürdigkeiten in der Umgebung aufmerksam machen. Er geht morgens von Tisch zu Tisch, begrüsst seine Gäste mit Namen und macht sie auf Neuigkeiten aufmerksam. Eine Meldung aus Deutschland, die er früh im Netz gelesen hat, erzählt er den deutschen Gästen, eine Nachricht aus Frankreich den Gästen aus Lyon, den Engländern berichtet er Neues aus ihrem Land. Und jede dieser kurzen Unterhaltungen führt er in der Sprache der jeweiligen Gäste. Eine Marotte hat er, wenn er sich beim Frühstück mit Gästen aus Deutschland unterhält. Es ist das Wort „Spitzenmeldung“, das er so gerne verwendet. Er hält eine ausgedruckte Seite der Süddeutschen Zeitung in der Rechten und weist mit der linken Hand auf die „Spitzenmeldung“ vom Tage über eine Bluttat in Mecklenburg-Vorpommern oder über das Hochwasser der Elbe. Und noch ein anderes Wort gehört zu seinem Vokabular. Es ist das Wort „faktisch“, das er so häufig einsetzt. „Sie sollten faktisch auf ihrer Wanderung die barocke Kirche besuchen können“. Oder: „Faktisch haben wir letztes Jahr bedeutend schlechteres Wetter gehabt“. Sein Gedächtnis ist ebenso bemerkenswert wie seine Höflichkeit. Er weiss, wer von den Gästen welche Tour bereits vor einem Jahr unternommen hat, er weiss, wen er unter seinen Gästen auf die St.Johann-Kirche im Nachbarort aufmerksam machen sollte und wen auf ein Konzert am nächsten Abend in der Burgruine Gerhardsberg. Bemerkenswert ist seine Kleidung. Während die Gäste in Wanderkleidern im Esssaal erscheinen, trägt er stets einen Anzug, morgens einen anderen als abends, morgens einen hellen und abends einen dunklen. Und auch an heissen Tagen gehört die Krawatte dazu. So war er in seinen Hoteljahren in Frankreich angezogen, so wird er auch bis zum letzten Tag in seinem eigenen Hotel zu sehen sein. Seine beiden Töchter sind schon längst erwachsen, sie sind in die grosse Stadt gezogen. Seine Frau ist vor einigen Jahren gestorben. Seine Angestellten sind mit ihm älter geworden, sie sind alle seit fünfzehn und mehr Jahren mit dabei, einige hat er noch von seinen Eltern übernommen. Und sie wissen, dass die Zeit hier bald schon vorbei sein wird. Er hat es verpasst, sich ein neues Konzept für das Hotel auszudenken. Er hat es versäumt, einen Umbau im richtigen Moment durchzuführen. Andere Hoteliers bieten Kulturwochen in der Region oder Ornithologische Exkursionen an. Ein Gasthof am selben Ort bietet Hundebesitzern die Möglichkeit an, mit ihrem Hund im Hotel zu sein, wobei noch Trainingswochen mit einem Kynologen für Hundehalter zum Aufenthalt gehören. Er hat die Biowelle ebenso verpasst wie die Botanische Wanderwoche, die ein anderes Hotel am Ort im Angebot hat. Auch W-Lan fehlt in seinem Hotel. Das schätzen zwar manche Gäste. Noch eine Jahr, höchstens zwei. Wenn er es durchhält. Dann ist es vorbei.
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Eine traurige und doch sehr schöne und berührende Geschichte.