Wenn Marian Holenij morgens in Polen seine Wohnung verlässt, sieht man ihm seine Tätigkeit nicht an. Er trägt einen kleinen Rucksack oder eine Plastiktüte, er könnte ein Wanderer sein. An fünf oder sechs Tagen die Woche begibt er sich in der polnischen Stadt Jelenia Gora zu Fuss zur Bushaltestelle, von wo ihn ein Bus nach Zgorzelec an die deutsche Grenze bringt. Etwas länger als eine Stunde benötigt der Bus für die 67 Kilometer bis zum Busbahnhof in Zgorzelec. Von hier aus geht Marian Holenij zu Fuss über die Neissebrücke zur deutschen Stadthälfte nach Görlitz hinüber, wo er sich in ein Buchantiquariat an der Brüderstrasse in der Altstadt begibt. Man kennt ihn hier. Seit Jahren schon. Hinter einem der hohen Büchergestelle steht sein Klappstuhl und gleich nebenan sein Akkordeon. Mit beiden zieht er zur nahen Rathaustreppe am Untermarkt, setzt sich dort hin und spielt seine Melodien. „Wär doch ein Unsinn, jeden Abend mit dem Akkordeon wieder nach Jelena Gora zu fahren, um das schwere Instrument am Morgen wieder nach Görlitz zu schleppen“, meint Frank Vater, Besitzer des Antiquariats. Nach zwei Stunden an der Rathaustreppe wechselt Marian Holenij den Platz. Früher hat er sich zum Kaufhaus Hertie am Marienplatz begeben, um hier unter den Arkaden zu spielen. Doch seitdem das Jugendstilkaufhaus leer steht und nur noch eine Drogerie im Eingangsbereich aufweist, setzt sich der Strassenmusiker an die Berliner Strasse beim Eingang der Strassburgpassage hin. 30 bis 40 Euro nimmt er pro Tag ein. Es gibt gute Tage, an denen Reisegruppen an ihm vorbeiziehen, es gibt Tage, an denen weniger Touristen die Altstadt und die Berliner Strasse aufsuchen. An solchen Tagen verstaut er sein Akkordeon schon um 14 Uhr und begibt sich zum Antiquariat, verstecktr Klappstuhl und Musikinstrument und geht durch den Stadtpark zur Stadtbrücke und zum Busbahnhof auf der polnischen Stadtseite, um zurück nach Hause zu fahren. An guten Tagen bleibt er länger, manchmal bis abends um fünf, spielt sein immer gleiches Repertoire ab, nickt zum Dank, wenn wieder eine Münze in seiner Mütze landet, lächelt die Passanten an. Ich habe Marian Holenij zum ersten Mal vor etwa fünfzehn Jahren gesehen. Damals noch unter den Arkaden des Jugendstilkaufhauses. Ich sehe ihn jedes Jahr wohl zweimal, bleibe kurz stehen, erkenne die Melodien wieder, lege ihm eine Zweieuromünze in die Mütze, er nickt mir zu, manchmal unterhalten wir uns kurz. Und obschon wir uns Jahr für Jahr begegnen, habe ich immer wieder den Eindruck, dass Marian Holenij mich nicht kennt. Denn jedes Mal fragt er mich, von wo ich denn käme. Und jedes Mal sagt er: „Switzerland beautiful country. Good chocolate. Good watches“.
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