Sie sitzt in Fahrtrichtung auf der anderen Seite des Gangs und liest eine Zeitschrift. Es ist eine reich bebilderte Designzeitschrift. Als der Schaffner ihre Fahrkarte sehen will, kann ich sehen: Sie liest einen englischen Text. Welch sympathische Kombination. Es ist eine lange Bahnfahrt, wir sind schon seit anderthalb Stunden unterwegs, und mir fallen ihre Kleider auf. Sie passen zur Zeitschrift. Ein Oberteil in hellem Grau, raues Material, elegantes Double Face, von Innen leuchtet der lang geschnittene Kragen in Gelb, das von einem grauen Saum umrandet ist. Ein seidenes Halstuch mit Vogelmotiven, gekonnt drapiert, ebenso wie das Oberteil nicht aus dem Warenhaus. Es sind eindeutig Einzelstücke, die sie trägt. Ich stelle mir vor, dass sie die Designerin kennt. Ob sie selbst ihre Kleider entworfen hat? Ihre sportlichen Schuhe nehmen die Farben der Jacke wieder auf, die Pluderhose in Türkis, wie originell dieser Kontrast und wie gut die Farben doch zueinander passen. Auch ich sitze in Fahrtrichtung, manchmal schaue ich zu ihr hinüber. Das ist unverdächtig, denn draussen gleiten auf ihrer Seite der Bielersee und der Neuenburgersee am Neigezug vorbei. Sie wird gewiss Freude haben, wenn ich sie auf ihre Kleider anspreche. Frauen sind so. Und Männer auch. Ich nehme an, dass auch sie in Genf aussteigt. Sie sieht so aus. Ob sie Westschweizerin ist? Sie könnte auch eine Amerikanerin sein. Dabei sind Italienerinnen doch so modebewusst angezogen. Ich lege mir meinen Satz zurecht. „Sie sind sehr geschmackvoll angezogen!“. Aber sie wird kein Deutsch sprechen. So sieht sie nicht aus. Schweizerdeutsch? Sie niemals! „Your clothes are very handsome.“ Das klingt sperrig. Beim Wort ‚Clothes’ werde ich gewiss stolpern. „You’re looking very elegant“, wäre die besser aussprechbare Variante. Aber so sehen Amerikanerinnen nicht aus. Jetzt hole ich mein iPhone heraus und formuliere auf der gelben Fläche, die für Notizen reserviert ist meine Varianten. Das muss sein, denn sonst wird es nicht überzeugend genug wirken. Ich entscheide mich zunächst für „E vestita con eleganza“. Oder soll ich eher sagen: „Ha gusto nel vestire“? Ich bin unsicher, das könnte nach einem Annäherungsversuch aussehen. Und das wäre peinlich, die Frau ist immerhin mehr als zwanzig Jahre jünger als ich. „Lei è molto elegante“ klingt etwas distanzierter. Ja, das wirkt besser. Und was, wenn sie eine Westschweizerin oder Französin ist? Ich entscheide mich für „Vous êtes très élégante, madame“. Ich höre die Lautsprecheransage, der Zug fährt in Genf ein, ich sehe, wie die Designzeitschrift im olivegrünen Rucksack nebenan verstaut wird. Auch er ist elegant, Gepäckstücke von ‚Mandarina Duck’ sind teuer, ich weiss es. Wir stehen gleichzeitig auf und ich entscheide mich für die französische Variante, schliesslich wird in Genf französisch gesprochen. Mein präparierter Satz rutscht mir weg: „Vous êtes habillée avec beaucoup de goût“, sage ich und staune über meinen Satz, ich schaue sie direkt an. „Oh, da’sch aber nett vo Ihne, Sie händ mi aber ziemli lang aaglueget uf dere Bahnreis.“ Woher bloss wusste sie, dass ich Schweizerdeutsch spreche?
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Zufällig bin ich auf das Inserat gestossen, in irgend einer Gratiszeitung. „Elegante Damen gesucht, zwischen 30 und 40, die an Nebenverdienst interessiert sind. Seriosität vorausgesetzt.“ Ich wollte mir einen Spass daraus machen, vielleicht auch meinen Marktwert testen. Jedenfalls meldete ich mich. Umgehend erhielt ich einen Anruf der Agentur. Schnell vereinbarten wir einen ersten Termin, und seither bin ich freie Mitarbeiterin der Design Test Service GmbH. Ganz seriös. Denn ich teste die Wirkung von Designerstücken. Einmal, manchmal auch zwei Mal pro Monat werde ich aufgeboten und von einer Designerin oder einem Designer eingekleidet. Von Kopf bis Fuss, inklusive Schuhe, Reisegepäck und passender Lektüre. Dann werde ich auf die Reise geschickt, meistens quer durch die Schweiz. z.B. von St.Gallen nach Genf, oder von Chur nach Basel, oder von Romanshorn nach Brig. Meine einzige Aufgabe besteht darin gepflegt zu reisen. Meistens suche ich mir einen Sitz in Fahrtrichtung aus, die Lektüre auf den Knien aufgeschlagen. Wenn ich Glück habe, ist es etwas in Deutsch oder Französisch. Manchmal muss ich jedoch auch spanische, italienische oder letzthin sogar russische Zeitschriften „lesen“. Ich kann diese Sprachen zwar nicht, dann schaue ich mir die Bilder umso ausgiebiger an. Oder ich schmuggle mir ein dünnes deutsches Heft in die Zeitschrift. So dass ich mich trotzdem mit Lesen beschäftigen kann.
Es ist in 90% sofort spürbar, wenn der erste Reisende oder die erste Reisende mich mustert. Das hab ich im Gefühl. Auch wenn der oder die Reisende geflissentlich aus dem Fenster schaut. Der Blick, der mich streift, der ist immer spürbar. Manchmal zähle ich innerlich auf hundert. Die meisten fangen mit mir ein Gespräch an, spätestens, wenn ich bei 80 angelangt bin. Die Frauen sind spontaner, neugieriger als die Männer. Sie wollen wissen, woher ich ein bestimmtes Stück habe. Die Männer schauen oft nur, oder machen ein unverfängliches Kompliment. Meistens sind sie älter als ich, so zwischen fünfzehn und zwanzig Jahren.
Komme ich am Zielort an, halte ich auf meinem Notebook Anzahl Blicke, Anzahl Gespräche, bemerkenswerte Aussagen und ähnliches fest. Werde ich auf einer Reise überhaupt nicht angesprochen, dann verheisst dies für den Designer oder die Designerin nichts Gutes. Die Stücke werden nie den Weg in einen Laden finden. Manchmal darf ich dann davon etwas behalten.
Ich staune, wie oft man erstaunt ist, wenn ich im breitesten Dialekt antworte. Als müsste man Amerikanerin, Italienerin oder Westschweizerin sein. Um gut angezogen zu sein.
Man sitzt im Zug und schaut sich an. Das ist doch eine klassische Situation. Man sieht, dass sie schöne kleider an hat und getraut sich nicht, sie anzusprechen. Sie oder die anderen Passagiere könnten meinen, man hätte eine Absicht. Wir sollten öfter allen Mut fassen und ein Kompliment aussprachen. HSteiner