Auf Reisen fotografiere ich morgens nach dem Aufstehen jeweils die vergangene Nacht. Ich habe dann die Träume der Nacht längst längst vergessen. Und würde ich nicht das Morgenbild gleich mit dem Namen des Hotels oder dem Namen der Freunde, bei denen ich übernachtet habe, notieren, ich würde das Bett, das Zimmer, das Hotel, die Herberge vergessen. Jede Hotelnacht hat ihre Geschichte. Dies ist das Bettzeug des sympathischen kleinen Hotels am Grudenberg in Halberstadt, einer Stadt in Sachen-Anhalt mit rund 43 000 Einwohnern, wo mich die freundliche Dame an der Rezeption nach der Ankunft auf meinem Weg zur Mendelssohn-Akademie in die falsche Richtung geschickt hat und erste Passanten mir nicht den richtigen Weg zeigen konnten, weil auch sie keine Ortskenntnisse hatten. Dies ist das Bettzeug aus jener kleinen Stadt mit dem wunderschönen gotischen Dom, den drei Tage lang Gläubige und Touristen nicht betreten konnten, weil ausgerechnet an jenen Tagen, George Clooney samt einer Gruppe von Schauspielern, die alle alliierte Soldaten und Offiziere auf der Suche nach Kunstschätzen spielten, die von den Nazis in den Höhlen in der Nähe von Halberstadt versteckt hatten. Niemand konnte mir erzählen, weshalb die Schauspieler und die riesige Filmcrew mit Dreharbeiten ausgerechnet den Dom in Beschlag genommen haben. Dies aber ist die Schlafdecke aus jenem der Ort, an dem ich im Hotel beim Frühstück eine Polin und eine Gruppe von vier Italienern getroffen habe, die auf Clooney-Spotting waren. Und sie erzählten mir aufgeregt, dass nicht nur Clooney im Film mitspiele, sondern auch Matt Damon, Cate Blanchett, Bill Murray und John Goodman. Cate Blanchett hätten sie auch schon erkannt. Ich gebe zu, dass mir zu John Goodman kein Gesicht einfiel. Aufgeregt erzählte mir die Frau aus Polen, dass George einen Schnurrbart trage. Halberstadts Dom ist grossartig, der Domschatz ist atemberaubend. Ich aber konnte die Polin und die Italiener nicht davon überzeugen, den Ort mit seinen drei grossen Kirchen und den beiden Kreuzgängen zu erkunden. Nach dem Frühstück machten sie sich schnell auf, um George Clooney zu finden, um mit ihren Teleobjektiven Bilder vom Nespressoman zu machen. Ich habe sie etwas später hinter einer Abschrankung mit anderen Leuten gesehen, wie sie auf Clooney warteten. Ich habe wunderbar geschlafen in Halberstadt. Ich werde mich wieder hin begeben, um die vier Bibliotheken dieser kleinen Stadt aufzusuchen, um mir mehr Zeit für den Dom zu gönnen, um den Domschatz nochmals anzuschauen, um der Geschichte der alten Klaus-Synagoge nachzugehen, um jenen Universitätsprofessor aufzusuchen, der hier in der früheren Stadtbibliothek seine eigene Bibliothek eingerichtet hat. Und wenn dann Clooneys Film „The Monuments Men“ in den Kinos zu sehen sein wird, werde ich ihn mir gewiss anschauen, um dann vielleicht zu verstehen, weshalb eine Frau aus Poznan und vier durchaus vernünftig aussehende Personen aus Bologna einem Schauspieler nachreisen, den sie bloss kurz zu Gesicht bekommen, wenn er aus dem schwarzen Bus mit den getönten Fensterscheiben aussteigt oder während einer Drehpause zu einem Restaurant gefahren wird, das gerade dann anderen Gästen nicht zugänglich ist. Ich ahne schon heute, dass der Dom, der an drei Tagen Clooneys Filmteam vorbehalten war, im Film bestenfalls 60 Sekunden lang zu sehen sein wird.
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Der Titel deines Eintrags kommt mir doch sehr bekannt vor! Ist Titelklau erlaubt im Blog?
Es stimmt! „Erzähl die Nacht“ ist der Titel eines vor dreizehn Jahren erschienen Romans von Theres Roth-Hunkeler. Ein feines Buch, das ich sehr gerne gelesen habe, ein Titel, der haften geblieben ist. Ich dachte nicht, dass es ein Titelklau sein könnte, wenn ich einem kurzen Blogtext denselben Titelgebe. Welchen Titel soll ich nehmen?
„erzähl die nacht“ ist ein so poetischer titel, der mich jedoch ein wenig in die irre führt. ich dachte, ich erfahre etwas von den träumen des schlafenden. von den besonderheiten der bettdecke vielleicht auch, von den geräuschen der nacht. den kleinen geheimnissen…
doch „erzähl die nacht“ berichtet von der stadt. von dem leben dort. und dem, was sich jetzt grad abspielt. was zu sehen wäre, im normalfall. und weshalb einige extra anreisen. und was dann im kino zu sehen sein wird. vielleicht einmal, mit bildern von dieser stadt.
„erzähl den tag“…