Psalmen

Früher hat er sein iPhone mit der Lasche aus dem blauen Freitag-Etui herausgezogen, wenn er wieder eine SMS beantworten oder unterwegs einen neuen Eintrag in seinem Facebook-Account einfügen wollte. Er kann es einfach nicht lassen. Er spielt fürs Leben gern mit seinem Smartphone. So viel ist er mit dem Handy beschäftigt, dass er stets ein Aufladekabel bei sich hat. Seine Freunde wissen es, es ist eine Sucht. Keine unsympathische, auch wenn manchmal doch etwas lästig. Zwar nicht gesundheitsschädigend. Sie dulden es, wenn er während des Essens oder sogar mitten in einem Gespräch sein Handy hervorholt, um eine SMS zu lesen oder auf einen Facebookeintrag zu reagieren. Er kann es nicht lassen. Manchmal machen sie eine Bemerkung. Und sie machen sich sogar in seiner Gegenwart lustig über ihn. „Welches iPhone-Modell hast du jetzt?“, fragen sie. Sie wissen es, er hat immer das neueste Modell. Er kann es wirklich nicht lassen. In der Strassenbahn morgens unterwegs zur Arbeit ist er bereits am Twittern oder Laden eines Bildes, das er mit seinem Smartphone für seine 375 Facebook-Freunde gemacht hat. Vor kurzem bei einem Aufenthalt in Turin hat er einen Ersatz für sein jugendlich wirkendes iPhone-Etui gefunden. Jetzt muss er nicht mehr jedes Mal sein Handy aus dem Etui herausziehen, er klappt das Lederetui wie ein kleines Buch auf, hält es so, dass die Mitpassagiere in der Bahn nicht sehen können, was er gerade macht und liest seine Emails und SMS-Nachrichten. Als er vor kurzem wieder in der Bahn unterwegs war, sprach ihn eine ihm gegenüber sitzende Nonne an, die meinte, er lese in einer kleinen Dünndruckausgabe die Bibel und sagte ihm, wie schön es doch sei, dass ein Mann in seinem Alter so andächtig die Heilige Schrift lese. Er benötigte einige Sekunden, um zu verstehen, was sie meinte und gab ihr zur Antwort: „Psalmen 27.1: „Der Herr ist mein Licht und meine Rettung, von wem sollte ich mich fürchten. Der Herr ist meines Lebens Zuflucht, vor wem sollte ich erschrecken?“.

Dieser Beitrag wurde unter Stadtleben, Unterwegs veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Eine Antwort zu Psalmen

  1. ave sagt:

    „das netz ist zerrissen und wir sind frei“
    psalm 124, 7b
    dankgebet für handygeplagte menschen in plötzlich auftauchenden funklöchern

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert