Gesang

Fotografieren lässt sie sich nicht. Aber man kann sie ansprechen. Sie ist eine von sechs Mitwirkenden. Als Museumswärterin verkleidet. Blaue Jacke, blaue Hose, hellblaues Hemd und das Abzeichen des Museums am Revers. Dreimal pro Woche ist sie im Einsatz. Und sie wechselt sich ab mit zwei weiteren Frauen und drei Herren. Sie alle haben eine kurze Ausbildung in einer Musikschule absolviert, zwei Nachmittage, mehr waren es nicht. Wenn sie im Einsatz ist, schauen sie die Museumsbesucher erstaunt an. Ohne Ankündigung beginnt sie zu singen. Ein Satz ist’s, nicht mehr: „This is Propaganda, you know, you know“. Zwei Minuten lang dauert ihr Gesang. Sie und ihre fünf Kollegen haben es einzeln in der Gesangsschnellbleiche gelernt. Wie die anderen Museumsaufseher wandert sie vor den Bildern und zwischen den Plastiken. Die Besucher schauen sie erstaunt an. Manche meinen, da hätte jetzt eine Museumsaufsicht durchgedreht. Kein Wunder, wo sie alle tagelang die modernen und unverständlichen Kunstwerke anschauen müssen. Manche Besucher machen einen weiten Bogen um die Aufpasserin. Andere bleiben stehen, schauen sie erstaunt an, lachen oder schütteln den Kopf. Wenige nur wagen es, sie anzusprechen. Einen halben Tag lang gehört sie zum Mitarbeiterstab des Museums. Sie ist Teil einer künstlerischen Installation. Dann radelt sie wieder zur Uni und arbeitet weiter an ihrer Abschlussarbeit. Es gibt kein Blatt, auf dem erklärt wird, weshalb sie singt. So will es der Künstler, der sie engagiert hat und dessen Name im Katalog nicht vorkommt. An der Wand ist die Liste aller Künstlerinnen und Künstler angeschrieben, die an dieser Ausstellung ihre Werke ausstellen. Sein Name steht ganz unten. Ihr Name und der Name ihrer zwei singenden Kolleginnen und Kollegen fehlen ebenso. Ich habe keine Fotografie von ihr machen können. Vielleicht hätte ich sie nicht fragen sollen. Ich hätte dreister sein sollen, ich hätte einfach ein Bild machen sollen. Manchmal finde ich mich zu höflich.

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