Dass Kunden für jemanden einen spannenden Krimi oder einen historischen Roman als Geschenk suchen, gehört zu ihrem Berufsalltag als Buchhändlerin. Als aber eines Tages ein Herr in Anzug und mit Krawatte vor ihr stand, der sie darum bat, ihm ein „Buch in Fadenheftung“ zu zeigen, war ja schon eine Premiere. Noch nie zuvor hatte jemand einen solchen Wunsch geäussert. Sie liest wirklich viel. Sie liest mehr als andere, weil sie Bücher, die sie empfiehlt, kennen sollte. Sie verstand den Wunsch nicht auf Anhieb. Der etwas altmodisch wirkende Herr musste ihn wiederholen. Sie fand den Wunsch seltsam und fragte nach, ob es ein Sachbuch oder ein Roman sein sollte. „Es spielt keine Rolle, ich möchte einfach ein Buch mit Fadenheftung kaufen.“ Noch in derselben Woche verlangte ein anderer Kunde von ihr ein Buch mit „japanischer Bindung“, worauf sie ihm einen Bildband über japanische Tempelanlagen anbot. Nein, das war nicht das, wonach er verlangt hatte, erklärte er ihr kurz angebunden, um detailreich in etwas lehrerhafter Manier zu erläutern, was eine japanische Bindung ist. Sie aber konnte ihm kein Buch mit einer japanischen Bindung anbieten, weil sie die Bücher in ihrem Buchgeschäft noch nie nach diesem Kriterium hin untersucht hatte. Sie konnte sich nicht erklären, weshalb einige Tage später ein anderer Kunde ein Buch in einer „englischen Broschur“ kaufen wollte. Ein Buch mit Goldschnitt, wie es noch in derselben Woche verlangt wurde, führte die Buchhandlung nicht. Nicht mehr. Immerhin wusste sie dieses Mal, worum es sich dabei handelte, denn in früheren Jahren hatte sie manchmal einen Klassiker mit Goldschnitt verkauft. Aber das lag schon lange zurück. Weshalb war es wohl einem anderen Kunden wichtig, sich nur Bücher mit Lesebändchen zeigen zu lassen. Ihm war es egal, ob es sich dabei um Klassiker oder um Bücher zeitgenössischer Autoren handelte, Hauptsache ein Lesebändchen. Der Mann verliess den Laden mit einem Reiseführer für Venedig mit einem goldenen Lesebändchen. Fast hätte er einen Lyrikband gekauft, ihm war es offenbar wirklich egal, um welches Buch es sich dabei handelte. Hauptsache ein schönes Lesebändchen. Als noch am selben Tag ein Kunde ein Buch mit einer Banderole kaufen wollte, da war sie nicht mehr ganz so sicher, ob sie im richtigen Beruf war. Weshalb verlangten Kunden in letzter Zeit immer häufiger nicht nach Reiseführern, Krimis oder Fantasybüchern, sondern nach Büchern, die so ausgefallen sein mussten. Immerhin konnte sie am nächsten Tag einem anderen Kunden mitteilen, dass sie in der Buchhandlung keine Blindbände führen, dass er sich dafür besser direkt an einen Verlag wenden müsse. „Führen Sie auch Bücher mit Büttenrand?“, fragte kurz darauf jemand. Nein, solche Bücher führten sie wirklich nicht. Immerhin wusste sie dieses mal ganz genau, wonach der Kunde verlangte. Eines Tages zeigte ein Kunde ihr einen Bildband und war vom „Duplexdruck“ begeisterter als von den Fotoinhalten. Vollends verwirrt war sie, als eine Kundin einen Tag später ein Buch in Linearschrift kaufen wollte, einen Fotoband aber wegen der schlechten „Opazität“ nicht mochte. Weshalb bloss äusserten in letzter Zeit Kunden so ungewöhnliche Buchwünsche. Sie konnte es sich nicht erklären.
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Was der vorliegende Text beschreibt ist ein Phänomen, welches in den letzten 5 Jahren vermehrt beobachtet werden konnte. Zum allerersten Mal wird es jedoch bereits 1999 in der Fachzeitschrift der nordamerikanischen Gesellschaft für Bibliophilie erwähnt. Es scheint einen direkten Zusammenhang mit dem „Project Gutenberg“ aus den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts zu geben. Zu einer Zeit also, als das WWW im Aufbau begriffen war.
Wenn Menschen je länger je mehr nur noch mit digitalen Medien in Kontakt kommen, gehen grundlegende haptische Leseerfahrungen verloren. Einige kompensieren dies mit übermässigem Konsum von Fingerfood, anderen entwickeln nervöse Störungen mit Kratzen, bis hin zu schwersten Hautauschlägen. Eine kleine Gruppe, die eher alternativen Heilmethoden zugetan war, schloss sich bereits kurz nach der Jahrtausendwende zu ersten Selbsthilfezirkel zusammen. Ihr Ziel: möglichst wieder Leseerlebnisse für Auge und Hände zu finden und pflegen. Es sieht so aus, als hätte sich nun so ein Zirkel auch in der Nähe der oben beschriebenen Buchhandlung gebildet. Es mag sinnvoll sein, diesem Bedürfnis mit Achtsamkeit zu begegnen. Denn in Übersee überlegen sich bibliophile Interessengruppen bereits für gesundheitliche Beeinträchtigungen durch e-book Konsum beim Verursacher Schadensersatz einzufordern.
Wunderbar, auch der Kommentar! Die Selbsthilfegruppe kenne ich, sie heißt Stiftung Buchkunst! Typotronia