Es ist erst Mittwoch und sie ist schon zum zweiten Mal im kleinen Café an der Ecke. „Ich muss mir etwas Gutes tun“, sagt sie, „man kann nicht mit Absagen leben“. Immer wenn eine Absage kommt, gönnt sie sich einen Besuch im Eckcafé. Eine Latte macchiato mit einem Herz aus Milchschaum und die kleinen süssen Pfannkuchen mit Butter und Puderzucker gehören zu den Absagen, die sie sich versüssen muss. Die Absage heute kam per Mail, diejenige am Montag hat sie am Telefon erfahren, weil sie in ihrer Ungeduld die Firma angerufen hatte, die sich seit einer Woche nicht mehr gemeldet hatte. Sie sucht seit vier Monaten schon, sie könnte mittlerweile die Bewerbungsformulare im Schlaf ausfüllen und manchmal wacht sie mitten in der Nacht auf, weil sie meint, eines dieser Formulare falsch ausgefüllt zu haben. Letzte Woche konnte sie vier Wohnungen anschauen. Im Treppenhaus inmitten einer Menschenschlange stehen, langsam wieder einen Tritt nach oben gehen, sich vorstellen, hier könnte ich eines Tages wohnen. Wie gut die Lage ist: Eine Bushaltestelle vor dem Haus, ein Lebensmittelladen um die Ecke, der Zeitungskiosk kaum 200 Meter entfernt, hinter dem Haus ein Garten. Wie schön es sei muss, hier zu wohnen! Sie weiss, dass die anderen, die vor ihr stehen und diejenigen, die von hinten nach vorne drängen, das auch denken. Das ist immer so, jedes Mal stellt sie sich vor, wie gut es sein könnte, gerade da oder dort zu wohnen. In drei Monaten muss sie aus ihrer jetzigen Wohnung ausziehen und sie hat immer noch keine neue Bleibe in Aussicht. Wie das drückt, wie belastend das ist. Wie ungerecht. Es gibt kaum freie Wohnungen mehr in der Stadt. Und die Wohnungen, die im Internet ausgeschrieben sind, sind fast immer zu teuer. Und wenn sie dann endlich meint, die Wohnung gefunden zu haben, die zu ihr passt, dann stehen vierzig Personen vor ihr im Treppenhaus und weitere fünfzig hinter ihr. Wie könnte sie bloss noch besser auf sich aufmerksam machen? Wie könnte sie nur diese Stille verhindern, wenn keine Antwort kommt, kein positiver Bescheid? Wie kann man Absagen ertragen? Jede Absage muss versüsst werden. Bei jeder Absage hat sie einen Besuch im kleinen Café an der Ecke zu Gute, wo es süsse Pfannkuchen gibt, solche mit Puderzucker und Butter, mit Erdbeer- oder Aprikosenmarmelade und einen Latte macchiato. Nur dürfen es nicht zu viele Absagen sein, denn zunehmen will sie nicht, dabei besucht sie dieses Café mittlerweile schon dreimal die Woche.
Michael Guggenheimers Website:
-
Neueste Beiträge
Neueste Kommentare
- inge reisinger bei Zimmer mit Aussicht
- anna überall bei Auf nach Paris
- Andrea Isler bei Stilleben
- Ro12 bei Bildermacher
- Albert Reifler bei Zimmer mit Aussicht
Archive
- November 2014
- Juli 2014
- Juni 2014
- Mai 2014
- April 2014
- März 2014
- Februar 2014
- Januar 2014
- Dezember 2013
- November 2013
- Oktober 2013
- September 2013
- August 2013
- Juli 2013
- Juni 2013
- Mai 2013
- April 2013
- März 2013
- Februar 2013
- Januar 2013
- Dezember 2012
- November 2012
- Oktober 2012
- September 2012
- August 2012
- Juli 2012
- Juni 2012
- Mai 2012
- April 2012
- März 2012
- Februar 2012
- Januar 2012
- Dezember 2011
- November 2011
- Oktober 2011
- September 2011
- August 2011
- Juli 2011
- Juni 2011
- Mai 2011
- April 2011
- März 2011
- Februar 2011
- Januar 2011
- Dezember 2010
Kategorien
Oh, wie gut ich das kenne. Textkontor und Michael Guggenheimer sind ja in Zürich beheimatet. Bei uns in München ist es nicht anders. Wer eine Wohnung suchen muss, ist gestraft. Denn freie Wohnungen sind rare Ware. Und wenn sich etwas ergibt, dann ist München eine Hochpreisinsel. Und wer möchte schon Dachau wohnen?