Herr Bergmann war unser Nachbar im Haus meiner Kindheit in Tel Aviv. Ich kann mich an Herrn Bergmann nicht mehr erinnern, ich sehe ihn nicht mehr vor mir. Aber ich erinnere mich noch an den Vornamen seiner Frau. Herta hiess sie. „Bergmann spielt wieder“, sagte mein Vater. Er hätte den Satz nicht sagen müssen. „Bergmann übt wieder“, lautete eine Variante. Oder: „Bergmann kommt wieder nicht weiter“. Dieser Satz war jenen Minuten und Stunden vorbehalten, wenn Bergmann eine besonders schwierige Passage nochmals und nochmals wiederholte. Bergmann war Konzertpianist. Meine Eltern nannten ihn bloss Bergmann, nicht Herr Bergmann. Bergmann war Berufsmusiker und sein Flügel stand im Wohnzimmer von Bergmanns, das an unser Wohnzimmer grenzte. Bergmann übte jeden Tag. Tagsüber störte das meine Eltern nicht: Mein Vater war in der Bank, meine Mutter in der Buchhandlung und ich in der Schule. Ich kam als erster nachmittags zu Hause an, und ich hörte Bergmanns Klavierspiel mit der Zeit nicht mehr. Erst wenn mein Vater laut und mit gereizter Stimme sagte: „Bergmann spielt wieder“, nahm ich Bergmanns Klavierspiel wahr. Freitagnachmittag nach 15 Uhr und samstags herrschte Ruhe, da durfte Bergmann nicht spielen, die Hausordnung verbat das Musizieren am Samstag. „Bergmann macht auf modern“, lautete ein anderer Satz meines Vaters. Dann stimmte meine Mutter ein und fügte spitz an: „Katzenmusik“. Bloss dieses eine Wort. „Katzenmusik“. Meine Eltern hassten „Katzenmusik“ und ich wagte nicht zu fragen, was Musik mit Katzen zu tun haben könnte. Als Bergmann eine Woche lang nur noch „Katzenmusik“ machte, stand mein Vater eines Abends in Bergmanns Tür und schrie Bergmann an. Bergmann aber schlug die Tür zu, ohne auf Vaters Bitten, Argumente und Drohungen auch nur mit einem Wort einzugehen, was meinen Vater noch mehr in Rage brachte. „Soll er üben“, sagten die Nachbarn von unten. „Ist doch gute Musik, Schönberg“, meinten Hellmanns, die Nachbarn von oben. Und Bergmann übte weiter. Mein Vater wurde unerträglich. Kurz darauf kam Vater eines Nachmittags von der Arbeit mit einem fremden Mann nach Hause. Die beiden packten ein grosses Radiogerät aus, stellten das Gerät so hin, dass der Lautsprecher gegen die Wand im Schlafzimmer meiner Eltern und somit auf Bergmanns Schlafzimmer gerichtet war. Abends nach 10 Uhr, als Bergmanns sich ins Schlafzimmer zurückzogen, drehte Vater den Lautsprecher laut auf, es war Radio Kairo oder Radio Amman, ich weiss nicht welche Station, aber es war Arabisch und sehr laut. Ein Muezzin betete, sang, schrie, heulte, rief vielleicht zum Kampf gegen Israel auf, so laut, dass bei Bergmanns nicht mehr an Schlaf zu denken war. Aber nicht nur bei Bergmanns. Mutter begann zu heulen, ich bekam Angst vor den bedrohlich klingenden Rufen des Vorbeters, die Nachbarn von unten und oben läuteten Sturm an unserer Wohnungstür. Nur Bergmanns meldeten sich nicht. Bergmann hatte an diesem Abend einen Auftritt in Haifa, aber das konnte Vater nicht ahnen. Vater blieb eisern, Mutter solle in meinem Zimmer schlafen, er öffnete die Wohnungstür nicht, bis ein Polizist nach Mitternacht mit einer Leiter über den Balkon kommend in unserem Wohnzimmer stand. Ich weiss nicht, ob Bergmann noch lange „Katzenmusik“ übte, wir jedenfalls mussten wegen Lärmbelästigung umziehen.
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