Hoch oberhalb des lang gestreckten Valle Maira im Piemont führt der stets ansteigende und durch Nebentäler mäandernde Wanderweg von der kleinen Stadt Dronero nach Campo Base, einer ehemaligen Basis der italienischen Armee unweit der französischen Grenze. Heute treffen sich in Campo Base Alpinisten, die mit Seil und Spitzhacke die felsigen Anhöhen zwischen dem Col de Stroppia und dem Colle della Grippiera besteigen. Drei Wanderetappen vor dem Ende des Tals in Campo Base liegt das Dorf Elva. So arm war die Bevölkerung des Tals und seiner Weiler in den Jahren zwischen 1880 und 1920, dass sich die Frauen von Elva und der umliegenden Dörfer regelmässig das Kopfhaar von Störfrisören und Haarkäufern abschneiden liessen, um ihr Haar zu verkaufen. Besonders hatten es die Haarkäufer auf lange blonde Zöpfe abgesehen, weil sich diese am besten verkaufen liessen. Bis nach London und Toronto wurde das Haar der Frauen verkauft. Mitglieder des englischen Oberhauses sollen ebenso Perücken aus dem Piemont getragen haben wie die Richter in Kanada. Jean P. Isaia war der erfolgreichste unter den Haarhändlern. Das „Museo di Pels“ von Elva zeigt in einer Vitrine Rechnungen und Verträge, die Isaia unterschrieben hat. Fast 100 Jahre nach dem Niedergang der Haarexporte bilden sich Geschichten rund um den Mann, dessen Störfriseure von einem Dorf zum nächsten Weiler mit Scheren und Säcken unterwegs waren, um langes Frauenhaar zu schneiden und einzusammeln. Niemand kennt Jean P. Isaia mehr. Niemand ist mehr da, der sich an ihn erinnern könnte, weshalb neue Geschichten um den Haarhändler entstehen können. Unweit von Elva neben dem Weiler Mattalia liegt der Weiler Borgetta Isaia. Der Name weise auf eine frühe jüdische Ansiedlung hin, sagen die Elvaner. Der Name sei jüdischen Ursprungs, hier habe sich ein jüdisches Bergghetto befunden, erzählen sie gerne. Von hier stamme Haarexporteur Jean P. Isaia. Die Grafen von Saluzzo hätten den „Ebrei“ die Möglichkeit geboten, sich hier anzusiedeln. Hier hätten Juden sogar dank seiner Schirmherrschaft Landwirtschaft betreiben dürfen. Dass kein Stein, keine Urkunde, kein Fund, kein Brief und kein regionales Geschichtsbuch den Nachweis erbringen kann, dass hier einst Juden als Bauern gelebt und gearbeitet haben, tut nichts zur Sache. Hauptsache, die Geschichte ist schön, die in allen regionalen Wander- und Heimatbüchern wiederholt und von Generation zu Generation weitervermittelt wird.
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