Paris Syndrom (2)

Ich hatte mir vorgenommen, den Eiffelturm zu besteigen, das Grab des unbekannten Soldaten und das Schloss von Versailles zu sehen. Dass Paris sterbenslangweilig sein konnte, wusste ich erst später. Den Eiffelturm hatten wir nicht geschafft, obwohl wir ihn fast jeden Tag in der Ferne gesehen haben, manchmal steckte seine Spitze im Nebel, was jedes Mal Grund dazu bot, die Besteigung des Turms auf den nächsten Tag zu verschieben. Dafür hakten wir die Museen ab. Vater hatte sich bereits für den ersten Tag vorgenommen, „die alten Deutschen“ zu besichtigen, am nächsten Tag stand wieder das unendlich riesige Museum auf dem Programm, diesmal waren es die „alten Niederländer“, und am Nachmittag desselben Tages mussten es die Italiener sein. Vater und Mutter bewegten sich durch die Säle in unvorstellbar langsamem Tempo. Paris schien eine nicht enden wollende Ansammlung von Bilderkammern und Bilderrahmen zu sein. Nach dem Louvre stand das Musée Rodin auf dem Programm, Vater hatte als Lektüre Bücher von Rodins Sekretär Rainer Maria Rilke mitgebracht. Einzig das Musée Carnavalet war für mich, der ich etwa zwölf Jahre alt war, interessant. Auf dem endlosen Schleichgang von einem Prunksaal zum nächsten entdeckte ich die letzten Locken der hingerichteten Marie-Antoinette. Und noch heute kann ich mich an eine Miniatur-Guillotine aus Knochen von Hingerichteten erinnern. Paris war eine traurige Enttäuschung. Ich hatte mir Fahrten mit der Untergrundbahn vorgenommen. Vater aber erklärte, eine fremde Stadt könne man auf Wanderungen wirklich auskundschaften. Die Sonntagswanderungen von zuhause schienen hier eine Fortsetzung zu finden, nur dass die Gipfel hier nie Piz oder Kulm hiessen, sondern immer mit dem Wort Musée oder Eglise begannen. Dabei hatte ich auf dem Plan der Untergrundbahn so geheimnisvolle Namen entdeckt. Was mochte bloss hinter dem Stationsnamen Bir Hakeim versteckt sein? Ich stellte mir Araber vor und Bauchtänzerinnen. Wie geheimnisvoll der Name der Haltestelle Sèvres-Babylone klang! Und wie mochte die Welt beim Verlassen der Metrostation Stalingrad aussehen? Ich stellte mir vor, dass die Menschen, die bei der Station Oberkampf wohnten, deutsch sprachen. Wie gerne wäre ich einen ganzen Tag lang mit der Metro gefahren. Ich hatte mir im Hotelbett die schnellsten Verbindungen ausgedacht. Von der Place de la Bastille zur Haltestelle Réamur-Sébastopol. Oder von der Endhaltestelle Balard zum Palais Royal. Paris mit den Eltern blieb aber eine Wanderung ohne Ende. Paris war eine Stadt der Qualen, die Stadt der Fussschmerzen und der stillen Museumssäle.

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2 Antworten zu Paris Syndrom (2)

  1. tiara sagt:

    Je peux imaginer un ennui encore plus pesant que celui d’une salle de musée vide: celui de salles d’exposition archicombles! Lorsque nous avons visité l’exposition du
    Jeu de Paume sur Diane Arbus, c’était une horreur. Les photos sont de petit format, on ne peut donc les regarder de
    loin, il faut se rapprocher. Seulement voilà, il y avait des centaines de gens qui voulaient se rapprocher. Finalement
    et d’une façon organique pour ainsi dire, les visiteurs ont formé une queue qui serpentait le long des murs, à la
    vitesse d’un escargot ou d’une limace, chacun faisant halte devant chaque photo, s’arrêtant pour regarder, quelquefois
    pour commenter. Le centre de la pièce était vide, tous les visiteurs se concentraient le long des murs, veillant à ne
    pas perdre sa place et rejetant, organiquement, toute tentative d’intrusion, tout trublion désireux d’échapper à la
    queue ou de doubler ses congénères. J’ai tenu jusqu’au bout, pris le temps finalement de tout voir, mais cette espèce
    „d’abattage collectif de la vision“, cet exercice forcé d’admiration, m’ont un peu écoeurée, m’ont laissé un arrière-
    goût de futilité.

    Au fait, c’est Réaumur-Sébastopol!

  2. Burgunder sagt:

    Mich erinnert diese Geschichte so gut an die Reisen mit meinen Eltern. Kirchen, Schlösser, Burgen. Erst mit 16 konnte ich mich absetzen. Es dauerte Jahre, erst viel später erkannte ich, dass ich viele Entdeckungen für später bereits als Kind meiner Eltern gemacht hatte. Ich fürchte, dass es meinen Kindern nicht anders ergangen ist: Städte, Schlösser, Museen. BG

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