Schwimmbewegungen

Ich kann mich an eine Autofahrt von Egilsstadir aus entlang der Ostküste Islands erinnern. Irgendwo an einer einsamen gewundenen Landstrasse wies eine Tafel mitten in der Landschaft auf ein Schwimmbad hin. Schwimmbad ist vielleicht ein etwas zu eleganter Ausdruck für das, was uns da begegnete. 20 Meter lang, etwa 7 Meter breit, ein Becken aus Beton, eine Sitzbank, warmes Wasser, das da in einer Lufttemperatur von etwa 9 Grad Celsius dampfte. Wir haben angehalten, haben uns ausgezogen und sind nackt ins warme Wasser. Schwimmen im warmen Wasser. Grossartig war das Erlebnis, auch wenn wir beim Aussteigen vor Kälte gebibbert haben. Elf Jahre später erzählt mir Tomas Guomundsson, den ich vor vor dem Sundhöllin-Hallenbad an der Baronstigur in Reykjavik kennenlerne, Schwimmbäder seien ein wichtiger Teil des sozialen Lebens in Island. Das heisse Quellwasser wirke in der lang andauernden kalten Jahreszeit Wunder. Wie gut ich mir das vorstellen kann. Alle können sie schwimmen, sagt er. Wirklich alle. Wer auf einer Insel lebe, müsse schwimmen können. Und dann erzählt er mir, wie er schwimmen gelernt habe. Er sei als Kind ins Wasser eines Schwimmbads gesprungen, der Lehrer hätte ihn an Achseln- und auf Bauchhöhe an Seilen festgehalten und er Tomas hätte Schwimmbewegungen unter Zurufen seines Lehrers ausführen müssen. Tomas, man nennt sich in Island nur beim Vornamen, versucht mir zu schildern, wie er in den Seilen gehangen habe, wie schwierig es auch gewesen sei, mit Armen und Beinen auszuholen, wie sehr ihn diese Seile gestört hätten. Er zeigt mir, wo und wie er in diesen Seilen gehangen habe und ich kann es mir nicht genau vorstellen. Ich erzähle ihm, wie ich den Schwimmunterricht in meiner Schulzeit gehasst hätte. Wir sechsjährige Schüler mussten ins Wasser springen, der Schwimmlehrer hätte einen Stecken gehalten, der stets in Greifdistanz vor uns war, den wir aber nur dann zum Halten bekamen, wenn wir Wasser zu schlucken begannen oder zu sinken, zu ertrinken drohten. Tomas findet diese Methode unangepasst, grausam, sagt er sogar. Und weil ich immer noch nicht verstehe, wie er in den Seilen gehangen haben soll, lädt er mich kurzerhand zu sich ein, um mir ein Bild von damals zu zeigen. Wir gehen an niedrigen farbigen Häusern der Njalsgata entlang, betreten eines dieser niedrigen Häuser, etwas über hundert Jahre alt sei das Haus, das er von seinen Grosseltern geerbt habe. Ich staune über die Enge der Räume und über die Wärme im kleinen Wohnzimmer, wo es draussen kalt und neblig ist. In einem Nebenzimmer, in dem bloss ein Tisch und ein Stuhl Platz haben, hängen Bilder von früher an der Wand. Und da ist das Bild, das Tomas mir zeigen wollte. Wie ein gefangenes Tier hängt er in den Seilen, sein Lehrer hält die Seile und bewegt sich dem Beckenrand entlang. Er habe den Schwimmunterricht gehasst, sagt Tomas. Und da sind wir uns ähnlich, auch wenn ich in Tel Aviv meinen Schwimmunterricht besucht habe und er in einem Dorf östlich von der kleinen Stadt Selfoss.

Dieser Beitrag wurde unter Landleben veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert