Sie sitzen sich gegenüber am gedeckten Zweiertisch. Die Landschaft gleitet an ihnen vorbei. Er könnte sehen, was kommt. Sie sitzt mit dem Rücken zur Fahrtrichtung des Zuges. Zwei Weissweingläser stehen auf dem hellblauen Tischtuch, sein Pastateller ist leer, sie hat ihre Portion nicht fertig essen mögen. Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand streichen über die Glasfläche seines iPads, es sieht so aus, als würden seine Finger Turnübungen vollführen. Sie blickt hinaus, schaut ihn an, beobachtet die anderen Reisenden im Speisewagen. Sie ist still. Auch er sagt kein Wort. Zwischendurch runzelt er die Stirn, bewegt seinen Kopf hin und her, murmelt etwas in sich hinein, räuspert sich, schaut sie nur kurz an, als würde er gerne etwas sagen, sagt aber nichts. Dann versinkt er wieder irgendwo in der Tiefe seines iPads. Mehrmals läutet sein Handy, es ist ein schriller Ton. Das Gerät ist auf laut eingestellt. Während die anderen Reisenden ihn missbilligend anschauen, reagiert sie nicht auf das eindringliche Läuten. Hallo, sagt er jedes Mal, nennt seinen Namen aber nicht. Er hört nur kurz zu, dann gibt er Anweisungen, er blickt dabei kaum vom kleinen Screen auf, beendet das Gespräch. Und auch als sie ihn anschaut, erfährt sie nicht, mit wem er gesprochen hat. Er ist wieder mit Zeigefinger, Daumen und Augen am Bildschirm. Dem Schaffner, der langsam von Tisch zu Tisch zu Tisch geht, zeigt sie die Tickets, die sie aus ihrer Handtasche hervorholt. Als der Kellner die Rechnung auf den Tisch legt, holt sie ein Portemonnaie hervor, er scheint den Kellner nicht wahrzunehmen. Sie zahlt, sie wechselt noch einige Worte mit dem Kellner. Eine Stunde lang müssen die beiden schon am Tisch gesessen haben und haben noch kein Wort gewechselt. Als die Ansage kommt und sie sich zum Aussteigen bereit macht, bleibt er sitzen. Sie nennt seinen Namen einmal, zweimal, erst als sie schon aufgestanden ist und seine Schulter berührt, schaltet er seinen iPad aus, steht widerwillig auf. Er nimmt seine Mappe, verstaut das Gerät. Sie stellen sich hinter den anderen Reisenden an, kein Wort. Als sie an der Gepäckablage vorbeigehen, greift sie zum Rollkoffer, sie zieht ihn hinter sich her. Er macht keine Anstalten, ihr behilflich zu sein. Sie steigt als erste aus, lässt ihn am Bahnsteig vor und geht hinter ihm her, der schon wieder das Telefon am Ohr hat und Anweisungen gibt.
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Wenn man das Bild anschaut, das diesen Text begleitet, dann ahnt man, weshalb dieser unangenehm autistisch wirkende Zeitgenosse seine Frau so abweisend, so unmöglich behandelt. Er setzt sich nicht mit Geschäftsbilanzen auseinander, ihn interessiert etwas ganz anderes. Ich ahne schon, wie es weitergehen könnte. Der Mann ist mit seinem Telefonat fertig, dann blickt er zurück und sieht seinen Koffer stehen, seine Frau aber ist weg, sie ist verschwunden. Nein, sie wird ihn begleiten, sie wird bei ihm bleiben. Aber jeder Psycholge wird ihr anraten, dieses Scheusal zu verlassen.
Die Frau mag es, wenn ihr Mann schweigt. Das gibt ihr Gelegenheit, ihre Blicke schweifen zu lassen, die andern Passagiere zu betrachten, zum Beispiel, die meisten von ihnen ebenfalls mit kleinen Gerätchen beschäftigt. Niemand stört sie in diesen Betrachtungen, und schaudernd erinnert sie sich an den Vorgänger des immerhin diskret Dauertelefonierenden ihr gegenüber, an Georg, den Weinkenner. Georg, der ihr von Lugano bis Zürich die Ohren voll gequatscht hatte über den Wein, den sie eben tranken, über seine Beschaffenheit, sein Bouquet, seinen Abgang. Und das gurgelnde Geräusch, das er gemacht hatte beim Kosten, und wie er den Wein eine ewige Zeit hin- und her befördert hatte im Mundraum, als hätte ihn ein Zahnarzt zum Spülen aufgefordert, und dann das geräuschvolle Schlucken, dem der anerkennende Blick des Experten folgte, verbunden mit seinem zustimmenden Nicken. Sie hatte sich stets so geschämt für Georg. Verglichen mit ihm war der Dauertelefonierer ein Goldschatz. Aber das wusste nur sie selbst. Und ich.