Seitdem Nicole schwanger ist, sieht sie überall schwangere Frauen. Von dem Tag an, an dem Bruno mit seinem neuen Citroen C6 unterwegs war, staunte er darüber, wie viele Wagen der Marke Citroen auf den Strassen fahren. Wenn Urs im Ausland unterwegs ist, dann fällt ihm überall Schweizerisches auf: Schweizer Taschenmesser in einem Schaufenster in Oslo, der Schriftzug der Zürich-Versicherung in Amsterdam, alte Stromzähler von Landis&Gyr in Toulouse, Fotos von Roger Federer auf der Frontseite der Gazetta dello Sport, der Schokoladenladen von Teuscher beim Lincoln Center. Bei jeder Tasche von Freitag meint er in Berlin, eine Schweizerin oder einen Schweizer auszumachen. Urs ist im Ausland schweizfixiert. Heiko aus Münster entdeckt überall Gutes aus Deutschland: In Kapstadt schwere Lastwagen von MAN, in Tel Aviv Doppelstockzüge aus Görlitz mit den Farben der Deutschen Bahn, in Zürich die Strassenbahn-Haltestelle Siemens, in Chicago den Leicashop. Du bist nicht anders, sagte mir Hanne eines Tages, als ich ihr von Urs und Heiko erzählte. Du tickst genauso. Ich gebe zu, sie hat Recht. Ich gehe auf den Neustädter Bahnhof in Dresden zu und sehe zuerst jene Gedenktafel, die daran erinnert, dass von hier aus die Juden Dresdens in die Vernichtungslager transportiert wurden. Ich schlendere durch Bratislava und bleibe vor den im Boden eingezeichneten Umrissen der zerstörten Synagoge stehen. Ich bin unterwegs durch die Altstadt von Thun und halte vor dem Schaufenster eines Ladens, der koschere Lebensmittel zum Verkauf anpreist. Ich bin durch Holland auf dem Rad unterwegs und halte in Edam und in Harlingen an einer Hecke an, weil ich beide Male auf der anderen Seite einen ausgedienten jüdischen Friedhof sehe. Ich schlendere abends durch die Strassen von Groningen und komme genau dann vor dem Eingang der Synagoge an, als der Gemeindelehrer das verschlossene Gebäude betreten will, durch das er mich dann führt. Ich schaue mir die Bücher in der Libreria Hoepli in Mailand an und entdecke zuerst Werke von italienisch-jüdischen Autoren. All das passiert absichtslos. Vor einigen Tagen habe ich mir vorgenommen, diesen heimlichen inneren Radar abzuschalten. Probehalber. Ich habe beschlossen, den unbewussten Suchbegriff zu ändern, um fortan nur noch Japan im Auge zu behalten. Gute Freunde, die in Japan waren, haben berichtet, wie spannend das Inselreich sei. Als ich kurz nach dem Wechsel meines Suchbegriffs beim Warten an der Strassenbahnhaltestelle mit einer ostasiatisch aussehenden Frau ins Gespräch kam, fragte ich sie, ob sie nicht Heimweh nach Japan hätte. Die Dame schaute mich staunend an. „Ich bin aus Seoul“, sagte sie. Ich muss meinen Suchbegriff wohl etwas überarbeiten.
Michael Guggenheimers Website:
-
Neueste Beiträge
Neueste Kommentare
- inge reisinger bei Zimmer mit Aussicht
- anna überall bei Auf nach Paris
- Andrea Isler bei Stilleben
- Ro12 bei Bildermacher
- Albert Reifler bei Zimmer mit Aussicht
Archive
- November 2014
- Juli 2014
- Juni 2014
- Mai 2014
- April 2014
- März 2014
- Februar 2014
- Januar 2014
- Dezember 2013
- November 2013
- Oktober 2013
- September 2013
- August 2013
- Juli 2013
- Juni 2013
- Mai 2013
- April 2013
- März 2013
- Februar 2013
- Januar 2013
- Dezember 2012
- November 2012
- Oktober 2012
- September 2012
- August 2012
- Juli 2012
- Juni 2012
- Mai 2012
- April 2012
- März 2012
- Februar 2012
- Januar 2012
- Dezember 2011
- November 2011
- Oktober 2011
- September 2011
- August 2011
- Juli 2011
- Juni 2011
- Mai 2011
- April 2011
- März 2011
- Februar 2011
- Januar 2011
- Dezember 2010
Kategorien
Wie schön das beschrieben ist. Ich kenne dieses Phänomen gut. Als wir unser erstes Kind hatten, da schienen die Strassen voller junger Eltern zu sein. Und als ich beim Skifahren mein Bein gebrochen hatte, da waren plötzlich so viele andere Menschen auch an Krücken. Adrian
Ein schönes Bild von jüdischen Gräbern. Es gibt mehr jüdische Friedhöfe in Europa als man weiss. In Süddeutschland fast in jeder Stadt, meistens liegen diese Friedhöfe ausserhalb der Stadt. Und ich staune immer wieder auch darüber, dass es in so vielen Städten, auch in kleineren, Synogagen gibt. Meistens sind sie aber nicht mehr in Gebrauch, denn die Menschen wurden vertrieben. JGabrieli