Dies sollte eine afrikanische Geschichte werden, ein afrikanischer Text. Ich war aber noch nie in Afrika. Wie schreibt man einen afrikanischen Text, wenn man Afrika nicht kennt? Käme jemand und zeigte mir eine politische Landkarte Afrikas, in der die Ländernamen fehlten, ich könnte nur wenige Staaten richtig platzieren. Es gibt Länder in Afrika, zu denen fällt mir bloss ein Satz ein, ein einziger. Zu Dahomey aber weiss ich nichts zu sagen. Mir fällt nichts ein zu Gabun. Keine Ahnung von Lesotho. War Togo vor langer Zeit eine deutsche Kolonie? Ich weiss einiges zu den Massakern in Ruanda. Mosambik war früher portugiesisch, Angola ebenso. Der schwarze Kontinent ist eine weisse Fläche in meinem Wissen. Ich habe eine Fotografie von einem alten Afrikaner in Erinnerung, der ein zerfleddertes Buch liest, ein Buch, das aussieht, als hätte der Mann es am Strassenrand in einer Pfütze aufgelesen oder in einer Mülltonne gefischt. Der Mann sieht arm aus. Er sitzt im Freien auf einem Stuhl und liest. Und ich erinnere mich an eine andere Fotografie, auf der eine ‚Train Church’ zu sehen ist. Es ist ein Bild aus Südafrika. Zu sehen ist ein ältlich aussehender Vorortszug mit Holzbänken. Ich stelle mir vor, der Zug ist irgendwo zwischen Soweto und Johannesburg unterwegs. Und ich erinnere mich an die Reisenden, es sind ausschliesslich Schwarze zu sehen. Sie sitzen und stehen dicht gedrängt, mehr Frauen als Männer sind auf dem Bild, sie beten unterwegs zur Arbeit oder von der Arbeit nach Hause. Man sieht, wie sie an den Seitenwänden des Waggons und den Fensterscheiben mit ihren Händen trommeln, man ahnt, dass sie mit ihren Füssen im Rhythmus stampfen und man vermutet sich wiegende Körper. Ich sehe dieses Bild vor mir mit den betenden Reisenden, auf dem im Vordergrund ein Mann mit einem Buch in der Hand zu sehen war, gewiss eine Bibel oder ein Buch mit religiösen Gesängen. Und ich frage mich, ob mir diese beiden Bilder haften geblieben sind, weil in ihnen beide Male ein Buch zu sehen war. Vielleicht weiss ich auch darum so wenig über Afrika, weil ich keine Autoren, keine Erzählungen aus Dahomey, Gabun, Lesotho und Togo kenne.
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ich meine, gerade innerhalb der kategorie „allgemein“ auf diesem blog mehr und mehr eine art leitthema auszumachen. „weisse fläche“, „suchbegriff“, „serien“ sind nur drei der texte, welche der frage nachgehen, wie sich unsere wahrnehmung konstituiert, oder was in unserer erinnerung haften bleibt und weshalb. wir haben keinen einfluss darauf, wir können rückblickend lediglich konstatieren, und auch dies nur mit grosser unzuverlässigkeit. die einträge erzählen leicht und nachvollziehbar, wie die innere bereitschaft für gewisse themen sich zu einem filter unserer wahrnehmung vernetzt, den „inneren radar“. wie könnte man diese schönen, so bildhaften einträge aus der kategorie „allgemeines“ herauslösen?